BERESCHIT
Kain und Abel - Über die Beherrschung verletzter Gefühle
Auslegung von Rabbinerin Ulrike OffenbergGerade haben wir zu Simchat Torah die Lesung der Fünf Bücher Mose abgeschlossen. An diesem Schabbat heißt es dann in Bezug auf die Torahlesung: „Gehe zurück auf ‚Los’“. Wir fangen erneut an, lesen am Schabbat „Bereschit“ von der Erschaffung der Welt und des Menschen. Die Torah nimmt uns mit auf eine atemberaubende Reise durch Jahrmillionen Jahre: In sieben Tagen wird die Entstehung der Welt und ihrer Geschöpfe erklärt. Dann beschreibt die Erzählung, wie der Mensch aus Erde geschaffen und in den Garten Eden gesetzt wurde, eine Partnerin erwächst ihm, doch die paradiesischen Umstände haben bald ein Ende, weil die Menschen vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse essen. Nach dieser Übertretung von Gottes Wort werden sie aus dem Garten Eden vertrieben, damit sie nicht auch noch vom Baum des ewigen Lebens essen. Fortan müssen die Menschen mit dem Wissen ihrer Sterblichkeit leben. Ein flammendes Schwert versperrt den Weg zum Baum des Lebens.
Gleich im nächsten Vers erzählt die Torah davon, wie das erste Menschenpaar gegen verlorene Unsterblichkeit Leben schafft. Eva wird schwanger und bringt zwei Söhne zur Welt, Kain und Abel. Und wieder hören wir eine symbolische Geschichte über das Wesen des Menschen. Kain wird Bauer, bestellt die Erde und bringt von den Früchten seiner Arbeit Gott dar. Abel wird Schafhirt und bringt Dankopfer vom „Fettesten“ seiner Herden dar. Den Opfern Abels wendet sich Gott zu, den Opfern von Kain nicht. Warum? Das sagt uns der Text nicht. Wie wir ja auch sonst in unserem Leben viel mit Irrationalität umgehen müssen. Kain jedenfalls ist frustriert. Gott warnt ihn noch: „Wenn du gut handelst, kannst du frei aufblicken. Wenn du aber nicht gut handelst, lauert die Sünde an deiner Tür und begehrt dich. Du aber sollst über sie herrschen.“ (Gen 4,7).
Doch Kain kann seine Kränkung nicht überwinden. Der nächste Vers beschreibt in verknappten Worten das Drama (Gen 4,8): „Und Kain sagte zu Abel, seinem Bruder, und als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen Abel, seinen Bruder, und tötete ihn.“ Was er ihm sagte, ist nicht überliefert – vielleicht ist es auch gegenstandslos, denn nichts kann Mord rechtfertigen. Die biblische Erzählung hält uns vor, dass Gott den Menschen mit der Vertreibung aus dem Garten Eden die Möglichkeit zu einem ewigen Leben auf Erden nahm, aber der erste Tod durch einen Menschen herbeigeführt wurde. Und zwar gewalttätig von einem Bruder dem anderen angetan.
Wie bei seinen Eltern wird auch bei Kain das Vergehen mit Vertreibung bestraft. Er muss unstet und heimatlos umherziehen. Geschützt wird er durch das Kainszeichen, das Gott ihm auf die Stirn malt. Trotz der Ungeheuerlichkeit von Kains Verbrechen darf niemand das Blutvergießen in der Welt mehren, indem er oder sie den Mörder tötet. Kain gründet die erste Stadt und eine eigene Familie. denn im Folgenden hören wir auch von den Söhnen Kains, die zu den Stammvätern weiterer Berufe werden: der Schmiede, der Lauten- und Flötenspieler, der Viehzüchter, der Zeltbewohner. Sie bringen weitere zivilisatorische Neuerungen in die Welt – und sie tragen nicht das Kainszeichen ihres Vaters. Seine Schuld wird nicht auf sie vererbt, sie haben die Chance und auch die Verpflichtung, neu zu beginnen.
Die biblischen Geschichten von der Erschaffung der Welt und der Menschen ernst zu nehmen, verlangt nicht die Absage an ein wissenschaftliches Weltbild. Der Schöpfungserzählung geht es nicht um Geschichte und Naturwissenschaft, sondern um eine Erklärung des Wesens des Menschen, um einen Hinweis auf seine Fähigkeiten, Gutes zu vollbringen, aber auch Furchtbares. Die Erzählung vom Brudermord steht im Dialog mit den vorangegangenen Geschehnissen im Garten Eden. Das erste Menschenpaar hatte vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen gegessen und damit die Fähigkeit zu ethischer Unterscheidung erworben. Doch schon ihr Sohn scheitert daran, seine verletzten Gefühle soweit zu beherrschen, dass er den Konflikt nicht mit mörderischer Gewalt austrägt. Viele Bibelkommentatoren sehen Kain und Abel nicht einfach als Brüder, sondern sogar als Zwillinge. Zum einen, weil nur von einer Schwangerschaft Evas die Rede ist, aber auch, um uns zu sagen, dass nicht in erster Linie die Gene und das soziale Umfeld darüber entscheiden, ob wir zu verantwortungslosen Menschen werden. Die Torah legt uns mit der Erzählung von Kain und Abel eindrücklich dar, dass wir einen freien Willen haben. Es liegt allein in unserer eigenen Entscheidung und Verantwortung, wie wir mit unseren Fähigkeiten umgehen.
Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung des RBB. Der Beitrag wurde dort am 21. Oktober 2022 gesendet.
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