hauptmotiv

MISCHPATIM

Gleiches Recht für alle

Auslegung von Rabbinerin Ulrike Offenberg

„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ – diesen Spruch hört man immer wieder, und verstanden wird er als Ausdruck der sogenannten „alttestamentarischen Rachsucht“. Was davon stimmt, ist lediglich, dass der Vers aus der hebräischen Bibel stammt – sogar drei Mal kommt er in der Torah vor, darunter auch im heutigen Wochenabschnitt, im Zweiten Buch Mose, Kapitel 21. In zweitausendjähriger Polemik gegen das Judentum musste dieser Vers dafür herhalten, einen Gegensatz zu konstruieren zwischen maßloser Rache und verzeihender Nächstenliebe, zwischen Gesetz und Evangelium. Befördert wurde dieses Missverständnis, weil der Vers meist nur in seiner neutestamentlichen Fassung bekannt ist. Dort wird das Opfer einer Gewalttat angesprochen und von ihm verlangt, auch die zweite Wange hinzuhalten. Dabei ist dieses Wort in Bezug auf den Täter gesagt und handelt vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Strafen.

Auge um Auge - die nahezu identische Formulierung findet sich in vielen wichtigen nichtjüdischen Gesetzessammlungen der Antike, z.B. im fast 4000 Jahre alten babylonischen Codex Hammurapi. Dort heißt es: „Wenn ein Mann das Auge eines Freien zerstört, so wird man sein Auge zerstören. Wenn ein Mann einem anderen ihm gleichstehenden Mann einen Zahn ausschlägt, so wird man ihm einen Zahn ausschlagen. (…) Wenn er das Auge eines Hörigen zerstört oder den Knochen eines Hörigen gebrochen hat, so zahlt er eine Mine Silber“.
Im babylonischen Recht sind also nicht alle Menschen gleich – das verletzte Auge eines Sklaven gilt nicht so viel wie das Auge eines Freigeborenen, deshalb muss der Täter nur eine Geldstrafe zahlen, aber nicht mit dem eigenen Auge dafür büßen. Dagegen hält der Grieche Zaleukos später, im 7. Jahrhundert v.d.Z., in seinem Rechtskodex fest: „Wenn jemand ein Auge ausschlägt, soll er erleiden, dass sein eigenes Auge ausgeschlagen wird, und es soll keinerlei Möglichkeit zu materieller Ersatzleistung geben.“

Das klingt heute alles sehr brutal. Aber die Strafe darf eben nicht überzogen werden, sie darf nicht vom Rachebedürfnis des Opfers oder seiner Angehörigen diktiert werden. Sie muss in einem Zusammenhang zur Tat stehen. Es geht um Verhältnismäßigkeit: Wer einen anderen Menschen verletzt, muss eine der Tat entsprechende Strafe erleiden. Das war ein Fortschritt. Und doch wirft diese Art von Naturalstrafe mehr Probleme auf, als sie zu lösen vorgibt. Alle Menschen sind gleich und ihre Körperteile gleich viel wert, aber doch haben sie für den Lebensunterhalt der Einzelnen unterschiedliche Bedeutung. Wenn ein Schriftsteller einem Berufstänzer den Fuß verstümmelt, ist damit dessen Karriere beendet. Sollte der Schriftsteller dafür mit dem eigenen Fuß zahlen müssen, wäre sein Broterwerb nicht in gleicher Weise betroffen wie der des Tänzers. Dieses 1:1 von Tat und Strafe stellt also nicht unbedingt Gleichheit her.

Und überhaupt: Was hat der Tänzer davon, wenn nun auch dem Schriftsteller ein Fuß fehlt? Das lindert nicht seinen eigenen Schmerz, hilft ihm auch nicht, die Heilkosten zu bezahlen und einen gleichwertigen Lebensunterhalt zu finden. Auch mit Blick auf den Täter bleibt offen, ob es sich um einen versehentlichen Unfall handelte oder um eine vorsätzliche Tat. Die Torah spricht diese Frage des Täter-Opfer-Ausgleichs an (Ex 21:18f): „Wenn Männer in Streit geraten und einer den anderen mit einem Stein oder einer Hacke schlägt, so dass er zwar nicht stirbt, aber bettlägerig wird, wieder aufstehen und an seinem Stock ausgehen kann, so soll der, der ihn schlug, nicht (in gleicher Weise) bestraft werden, sondern ihm bezahlen, was er versäumt hat und das Arztgeld geben.“
Wenige Verse weiter lesen wir, dass die Höhe der Zahlung von Schiedsrichtern bemessen wird (Ex 21:22). Der Schadensersatz für das Opfer und die Strafe für den Täter werden durch ein geordnetes Rechtsverfahren festgelegt, das die Formulierung „Auge für Auge, Zahn für Zahn“ nur als Maßstab für die Verhältnismäßigkeit von Schaden und Sühne benutzt.
Die jüdische Rechtspraxis, die Halachah, entwickelte diesen Grundsatz weiter und bestimmte: „Wer seinen Nächsten verwundet, ist dafür zu fünf Arten von Zahlungen verpflichtet: für den Schaden, für den Schmerz, für Heilkosten, für Arbeitszeitausfall und für Ehrverlust“. (mBaba Kamma 8:1)

Das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ steht also für den Beginn eines Rechtes, das alle Menschen gleich behandelt und den Geschädigten zu Schadenslinderung verhelfen soll. Maßlose Rachsucht war damit gerade nicht gemeint. Noch nie. Aber das lässt sich für viele nicht auf den ersten Blick erkennen. Es wäre klüger, auf die verkürzte, vermeintlich so griffige Redensart zu verzichten.

Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung des Rundfunk Berlin-Brandenburg. Der Beitrag wurde dort am 21.02.2020 gesendet.

16.02.2024 Artikelarchiv >>
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