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Nachruf

»Leuchtendes Vorbild für ein modernes Judentum«

von Rabbiner Andreas Nachama

Rabbiner Henry G. Brandt starb im Alter von 94 Jahren. In der Tradition Leo Baecks stand er gleichermaßen für akademische Gelehrsamkeit wie für traditionelles Glaubenswissen

 

Rabbiner Henry G. Brandt (1927–2022) Foto: imago stock&people 

An die letzten Sitzungen des Allgemeinen Beit Din unter Henry Brandts Leitung werde ich mich immer erinnern: Schon körperlich gebückt, saß er den ihm Fremden gegenüber, die ihr jüdisches Sein von diesem Gremium bestätigt hören wollten. Und er fragte, ebenso liebevoll wie ernsthaft, und versuchte, das Anliegen zu verstehen, ohne sich zu verschließen oder fahrlässig zu sein: wie einer, der sicher auf der Seite einer Rasierklinge wandelt, um jüdische Entscheidungen im Konsens mit den anderen im Gremium zu treffen.

Die Allgemeine Rabbinerkonferenz trauert um ihren Gründungs- und Ehrenvorsitzenden Rabbiner Dr. h.c. Henry G. Brandt, der am 7. Februar im Kreis seiner Frau Sheila, seiner Kinder und Enkel von dieser Welt abberufen worden ist.

FLUCHT

1927 in München geboren, konnte er 1939, als die Zeichen in Deutschland auf Sturm standen, mit seiner Familie über Großbritannien nach Palästina flüchten.

Aus dieser ihn prägenden Situation resultierte seine enge Verbundenheit mit dem jüdischen Staat. Sie war aber auch unauslöschlich geprägt durch seine Tätigkeit zunächst in der Untergrundorganisation Palmach und anschließend bis 1950 als Flottenoffizier Israels.

Nach einem Studium der Betriebswirtschaft und kurzer Tätigkeit in der Automobilindustrie studierte er am Leo Baeck College in London, wo er 1966 zum Rabbiner ordiniert wurde. Nach Tätigkeiten als Rabbiner in England, der Schweiz und in Schweden kehrte er 1983 nach Deutschland zurück: mit Positionen als Landesrabbiner in Niedersachsen und Westfalen-Lippe, dann Augsburg und schließlich bis zu seinem Lebensende in Bielefeld.

EHRUNGEN 

Henry Brandt ist auf vielfache Weise geehrt worden. Der Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg verlieh ihm 1994 die Ehrendoktorwürde. 2005 zeichnete ihn die Stiftung Zentralinstitut Islam-Archiv mit dem Muhammad-Nafi-Tschelebi-Preis aus. 2007 erhielt er zusammen mit seinen Mitstreitern Rabbiner William Wolff und Ernst Ludwig Ehrlich den Israel-Jacobson-Preis der Union progressiver Juden in Deutschland.

Das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhielt er 2008, den Bayrischen Verdienstorden 2014, die Ehrenbürgerschaft der Stadt Augsburg 2015 und den Estrongo Nachama Preis für Toleranz und Zivilcourage 2019. Bei dieser Preisverleihung war er schon in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt – und saß, um das nicht im später voll besetzten Auditorium vorzuführen, schon auf der Bühne, bevor die Gäste kamen. Dabei wirkte sein Gesicht so jugendlich und frisch wie vor Jahrzehnten.

Er verstand es meisterlich, Lösungen für Gegenwart und Zukunft aus der Tradition zu destillieren.

Das Besondere an seinem Wirken war sein Charisma als von einem, der es meisterlich verstand, aktuelle Fragestellungen und Probleme durch aus der jüdischen Tradition stammende Beispiele und Geschichten aus Tora, Midrasch und chassidischen Erzählungen der Neuzeit zu illustrieren, ja, aus ihrer Quintessenz Lösungen für Gegenwart und Zukunft zu destillieren.

Sollte sich aber etwa in einer problemgeladenen Sitzung gar keine Lösung herauskristallisieren, dann kam ihm sein intelligenter leiser Humor zu Hilfe, der niemals auf Kosten anderer alle Verkrampfungen löste und den Diskussionspartnern ein Lächeln in die Mundwinkel brachte. Seine Erfahrung und sein Engagement werden uns fehlen.

BEGEGNUNGEN 

Keine Sitzung, an der ich Henry Brandt nicht erlebt hätte, ohne dass er sich vorab gründlich und sicher durch die Sitzungsvorlagen und Protokolle durchgearbeitet hätte, mit großer Treffsicherheit kleine Flüchtigkeitsfehler in der Anmoderation anmerkend, ohne den Autor in Verlegenheit zu bringen.

Begegnungen mit Henry Brandt waren immer eine Bereicherung, denn er verkörperte jene Generation deutscher Juden, die nicht außerhalb der Gesellschaft stehend, sondern an ihr teilhabend und teilnehmend ein lebendiges Judentum verkörpern. Henry Brandt war ein leuchtendes Vorbild für ein modernes Judentum.

Rabbinerin Elisa Klapheck hat Rabbiner Brandt anlässlich seines 9o. Geburtstags als »beherzten Macher« bezeichnet. Ganz selbstverständlich aktualisierte er in der Tradition Leo Baecks jüdisch-traditionelle Positionen, ohne das Wesen des Judentums aufzugeben – Rabbiner Henry Brandt steht gleichermaßen für wissenschaftlich-akademische Gelehrsamkeit wie für jüdisch-traditionelles Glaubenswissen; ohne Verrenkungen machte er jenen Spagat, der für die deutsch-jüdischen Rabbiner des 19. und 20. Jahrhunderts identitätsstiftende Grundlage gewesen war. In seinen eigenen Worten ging es darum: »die Tora in unseren Tagen zum Glänzen zu bringen«.

GRUNDÜBERZEUGUNG 

Seine jüdisch-selbstbewusste Grundüberzeugung, dass Judentum und Christentum nebeneinander existieren, war wesentlich beeinflusst von der nach der Schoa übernommenen Verantwortung der christlichen Kirchen für einen gedeihlichen Dialog der beiden die europäische Kultur über zwei Jahrtausende prägenden Religionen.

Begegnungen mit Henry Brandt waren immer eine Bereicherung, denn er verkörperte jene Generation deutscher Juden, die ein lebendiges Judentum verkörpern.

So war es folgerichtig, dass er seit 1985 bis 2016, 31 Jahre lang, jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates war und im Dialog auch im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken zusammen mit Hanspeter Heinz über Jahrzehnte Eckpunkte des Dialogs zwischen den »zwei Glaubensweisen« mitgestaltet hat.

Friedhelm Pieper, evangelischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, der einige Jahre zusammen mit Rabbiner Brandt im Präsidium zusammenwirkte, bringt die Trauer der Gesellschaften, die Henry Brandt in 31 Jahren des Vorsitzes und bis heute als Ehrenvorsitzender ganz wesentlich geprägt hat, auf den Punkt: »Wie werden wir seine so energische Stimme im jüdisch-christlichen Dialog vermissen, denn er war über Jahrzehnte hinweg die prägende Stimme des Judentums im christlich-jüdischen Dialog. Er hat in ganz erheblicher Weise Christinnen und Christen für die vielfältigen Aspekte der jüdischen Religion aufgeschlossen.«

DIALOG 

Dagmar Mensink, seit 2014 katholische Vorsitzende des Gesprächskreises Christen und Juden beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken, bekennt: »Mit dem Tod von Rabbiner Brandt verliert Deutschland eine herausragende Persönlichkeit des Dialogs und der Verständigung. Fast drei Jahrzehnte hat Rabbiner Brandt den Gesprächskreis ›Juden und Christen‹ mit seiner Klugheit, seinem feinen Humor und seiner toleranten Gelassenheit entscheidend geprägt. Unvergessen bleibt sein Eintreten für die Fortsetzung des Gesprächs auch in der tiefen Krise durch die von Papst Benedikt XVI. formulierte Karfreitagsbitte für die Juden.«

Das Besondere an seinem Wirken war sein Charisma. Er war ein »beherzter Macher«.

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, würdigt Rabbiner Brandt als einen, der »über Jahrzehnte mit Klugheit und einem großen Wissen den jüdisch-christlichen Dialog geführt« hat, und hebt hervor, dass »es ihm gelungen ist, auch in schwierigen Phasen den Gesprächsfaden nie abreißen zu lassen. Beharrlich und ohne den eigenen Standpunkt zu verleugnen, hat er immer wieder Brücken zu den Kirchen geschlagen«.

SCHOA 

Dass Henry Brandt so lange und bis ins hohe Alter so frisch und jugendlich wirkte, hat auch etwas mit seinem Verhältnis zu anderen Menschen zu tun. Er ließ immer alle an seinen Erfolgen so teilhaben, als wären sie gemeinsam erstritten – auch wenn er der Urheber war. Anlässlich seines 90. Geburtstags sagte er: »Das Leben, das sind die Menschen um einen, und Erfolge sind immer geteilt.«

Wie sehr Rabbiner Henry Brandt von der Schoa, der er durch Emigration entgehen konnte, geprägt war, macht eine Rede von ihm zum 9. November deutlich. Er fragt, ob Menschen, die nicht nur Gutes getan haben und tun, im Ebenbild Gottes geschaffen wurden: »Denn gerade dieser Tag, der uns an den absoluten Tiefpunkt menschlichen Verhaltens erinnert, konfrontiert uns ausweglos mit der Frage: Mensch, wo gehst du hin? Weil wir noch leben und weil wir zusammen sind, weil wir zusammen uns erinnern, weil genügend noch existiert, das uns nicht vergessen lässt, erkennen wir den Wahrheitsinhalt der alten jüdischen Weisheit, die auch Richard von Weizsäcker zitiert hat, dass das Geheimnis der Erlösung Erinnerung heißt. Deshalb ist dieser Trauertag auch Ankerpunkt einer Kette, die in die Zukunft führt, eine Zukunft, die uns zumindest die Möglichkeit eröffnet, noch zu beweisen, dass der Mensch doch im Ebenbilde Gottes geschaffen ist und dass er nicht zum Scheitern verurteilt ist.«

Seine Lesart der Tora bleibt für uns richtungsweisend.

Oder wie er es uns oft gesagt hat, die Tora gebe ihm Hoffnung und bestätige ihn jeden Tag aufs Neue in seinem Lebensmotto, einem Zitat aus dem fünften Buch Mose: »Wähle das Leben!« Jeder Mensch habe eine freie Wahl, persönlich Position zu beziehen. Überall. Zu jeder Zeit.

Seine Lesart der Tora bleibt für uns richtungsweisend. Rabbiner Henry Brandt bleibt für uns Pfadfinder auf dem Weg zu einer jüdischen Identität in unserer Zeit und in der Zukunft: Sein Andenken sei zum Segen!

Der Autor ist Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, Jüdischer Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und Jüdischer Vorsitzender des Gesprächskreises Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken.

Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 10.02.2022.

 



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