Purim - hinter der Mauer
Das Fest durfte nur im biblischen Schuschan zwei Tage lang gefeiert werden – aber nicht in West-Berlin
von Rabbiner Andreas Nachama
Purim ist ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Fest, das am 14. Adar (an diesem Donnerstag)
gefeiert wird – in manchen Orten aber auch einen Tag später. Grundsätzlich werden in der Diaspora
viele jüdische Feste an zwei Feiertagen hintereinander begangen – anders als in Israel.
Bei Purim verhält es sich in gewisser Weise umgekehrt. In der Diaspora wird das Fest an einem
einzigen Tag gefeiert, in Israel aber an zwei Tagen. Dabei handelt es sich nicht um einen
Übermittlungsfehler im Kalender oder gar um eine Panne der rabbinischen Logik, sondern es steht
so in der Megilla: »Die Juden in den königlichen Provinzen scharten sich zusammen, verteidigten
ihr Leben, verschafften sich Ruhe vor ihren Feinden und ermordeten von ihren Hassern 75.000
Mann; aber nach der Beute streckten sie ihre Hand nicht aus. Das geschah am 13. Tag des Monats
Adar, aber am 14. ruhte man und feierte ihn als einen Tag fröhlicher Gelage. Dagegen scharten sich
die Juden in Susa am 13. und am 14. zusammen, ruhten am 15. und feierten ihn als einen Tag
fröhlicher Gelage« (Buch Esther 9, 12–18).
Da Schuschan oder Susa, die Hauptstadt des biblischen Landes, eine ummauerte Stadt war, haben
die Rabbinen verfügt, dass Juden, die in ummauerten Städten leben, erst am 15. Adar Purim feiern.
Das heißt für Israel: Das ganze Land feiert wie der Rest der jüdischen Welt am 14. Adar Purim, in
Jerusalem aber wird Purim erst am 15. Adar (an diesem Freitag) gefeiert.
Bezirke
Jetzt könnte man sehr schnell auf die Idee kommen, dass diese Vorschrift auch auf andere
ummauerte Städte zu übertragen sei. Ich erinnere mich gut daran, dass besondere Schlaumeier in
regelmäßigen Abständen im ummauerten West-Berlin mit der Forderung auftauchten, dass Purim
erst am 15. Adar zu feiern sei, weil West-Berlin als Eruv gelte, als geschlossener Bezirk am
Feiertag.
Tatsächlich hätte man West-Berlin als Eruv betrachten können – möglicherweise haben es auch
einige getan, denn die Stadt war vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 gänzlich
ummauert beziehungsweise durch nahezu unüberwindbare Stacheldrahtzäune von der östlichen
Stadthälfte und vom Umland getrennt.
Die Grundregel für Juden, die den Schabbat halten, ist, dass man keine Lasten vom privaten in den
öffentlichen Bereich tragen darf. Wohl aber darf man zum Beispiel in einer durch die Eingangstür
verschlossenen Wohnung zum Beispiel Teller oder Tiegel mit Essen von der Küche ins Esszimmer
bringen – oder den Kinderwagen vom Kinderzimmer ins Wohnzimmer rollen. Diese Regel wird
auch auf ummauerte Städte oder Stadtbezirke angewendet. In einer ummauerten Stadt darf eine
praktizierende Jüdin ihren Kinderwagen nicht nur von Zimmer zu Zimmer in ihrer Wohnung rollen,
sondern damit auch in die Synagoge spazieren, wenn die örtliche jüdische Gemeinde oder ein
Rabbiner feststellt, dass die Gegebenheiten des Eruv erfüllt sind.
Baumstämme
Jeder von uns hat schon einmal diese scheußlichen, meist auf Baumstämmen
angebrachten Telefon- und Stromleitungen in den Städten der USA gesehen, die beim ersten Orkan
des Jahres umstürzen und zu Blackouts in amerikanischen Städten führen. Mir ist zwar
unverständlich, warum ein modernes Amerika so seine Infrastruktur einrichtet – aber für Juden in
Amerika sind diese Leitungen wunderbare virtuelle Mauern, die ihren Stadtbezirk oder ihre Stadt
vom Umland trennen, also halachisch wie eine Mauer wirken.
Zurück nach West-Berlin in den Jahren zwischen 1961 und 1989: Hier gab es einige, die die
Berliner Mauer als Eruv betrachteten, die also mit Kinderwagen vorneweg oder Gebetbuch unter
dem Arm in die Synagoge gingen – auch über Distanzen hinweg, die am Schabbat ohne Pause
eigentlich nicht zu bewältigen sind.
Besserwisser
Andere dagegen wollten die Teilung der Stadt nicht akzeptieren und gingen folglich
davon aus, dass auch West- und Ostgemeinde nicht geteilt seien. Folglich erkannten sie keinen Eruv
für West-Berlin an.
Doch diese Diskussion war müßig, denn an Purim gelten ganz andere Vorschriften als die des Eruv.
Schon im Talmud wird erörtert, wie das Fest zum Beispiel in Tiberias zu halten ist: Die Rabbinen
gehen davon aus, dass die Stadt erst später eine Mauer erhielt – und legten fest, dass nur Großstädte,
die schon zur Zeit von Jehoschua, also zur Zeit der Landnahme, ummauert waren, das Purimfest am
15. Adar feiern (Talmud Bawli, Megilla 2a). In heutigen Zeiten trifft dieses Kriterium nur noch auf
Jerusalem zu. Zur Zeit der Berliner Mauer bekamen diese Besserwisser, die in regelmäßigen
Abständen auf eine Verlegung des Purim in West-Berlin vom 14. auf den 15. Adar plädierten, genau
diese Antwort von Rabbinern.
Billigflieger
Falls man es allerdings heute darauf anlegt, kann man auch als Berliner Jude Purim im
gleichen Jahr zweimal erleben – wenn man erst in Deutschland feiert und in der Synagoge die
Megilla liest, am frühen Nachmittag einen Flieger nach Israel nimmt und sich dann am Abend und
dem folgenden Tag, dem 15. Adar, in Jerusalem ins Festgeschehen stürzt.
Das wiederum war vom alten West-Berlin aus kaum möglich, da es keine direkten Flüge nach Israel
gab. Im Zeitalter der Billigfluglinien dagegen ist die doppelte Purimfeier machbar – und auch
halachisch kein Problem, Denn Purim ist zwar ein fröhliches Fest, aber kein durch Arbeitsverbote
geschützter Schabbat oder Feiertag. Purim Sameach!
Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 5.3.2015.
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