Impfen als Mizwa
Der Schutz vor hochansteckenden Krankheiten ist nicht nur medizinisch geboten, sondern auch eine religiöse Pflichtvon Rabbiner Andrew Aryeh Steiman und Eyal Arnon
In einer Demokratie werden Entscheidungen oft als Ergebnis einer Güterabwägung getroffen und umgesetzt. Das Wohl vieler soll dabei möglichst ohne Nachteil für einige wenige erreicht werden. Nach diesem Muster finden auch medizinische und halachische Entscheidungsprozesse statt.
In der Gesundheitspolitik einer demokratischen Gesellschaft kommt aus jüdischer Perspektive somit alles zusammen. Spannungen sind dabei natürlich; hinter ihnen stehen unterschiedliche Interessen, Vorstellungen und Weltanschauungen, die sich oft gegenseitig ausschließen. Die politische, medizinische und halachische Kunst besteht dann darin, diese in einer Güterabwägung miteinander möglichst in Einklang zu bringen.
Zu oft setzen sich aber in einer offenen Gesellschaft diejenigen Stimmen durch, die einfach nur am lautesten sind. Besonders laut in Bezug auf Impfungen werden nun Stimmen, die nach Ausnahmen rufen oder Impfungen ganz abschaffen wollen. Gerade sie sehen sich im Entscheidungsprozess als Schwache, ja gar als Opfer starker Wirtschaftsverbände der Pharma- und Chemieindustrie.
masern
Mit diesem geradezu hysterischen Argument widersetzen sie sich den Bestrebungen nach flächendeckenden Impfungen. Sie verweisen auf die Kraft der Natur, die bei überstandenen Masern etwa als Kinderkrankheit eine hundertprozentige Immunität gewährleiste. Impfungen können diesen vollständigen Schutz nicht erreichen. Sie können aber durchaus den Ausbruch der hochansteckenden Krankheit weitgehend verhindern, und damit auch mögliche Komplikationen, die bleibende Schäden oder gar den Tod zur Folge haben können. Die Risiken der Infektion werden oft unterschätzt, die Risiken der Impfung umso mehr überschätzt.
Was Sigmar Gabriel im wirtschaftspolitischen Diskurs bemerkte (»Deutschland ist ein reiches und hysterisches Land«), scheint eher in der Gesundheitspolitik und der Frage der Impfentscheidungen zu gelten. Wie in der Wirtschaftspolitik müssen aber ganz bestimmt auch die richtigen Instrumente zur Anwendung kommen. Hierbei wird unterschieden werden zwischen behandelnden und vorbeugenden Instrumenten. Auch halachisch wird dieser Unterschied unterstrichen; zwischen l’hatchil (von vorneherein, also auch im Vorfeld einer potenziellen Erkrankung, mithin präventiv) und b’diawad (im Nachhinein, mithin therapeutisch).
präventivmedizin
Gerade für die Gesundheitspolitik steht die Präventivmedizin besonders im Fokus, vor allem im Bereich der Epidemievermeidung. Sie stellt eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung dar, was ihr ethische Relevanz verleiht. Klar ist: Hohe Durchimpfungsraten verhindern hohe Übertragungsraten, bieten also »Herdenimmunität«, die wiederum einzelne Personen schützt.
Das ist halachisch von entscheidender Bedeutung: Jeder, der sich einer Impfung gegen eine hochansteckende Krankheit widersetzt, vermindert die Herdenimmunität und erhöht damit die Ansteckungsgefahr gerade auch für diejenigen, die sich nicht dagegen wehren können: Kleinkinder, Schwangere, Alte und Patienten mit eingeschränkter Immunität. Das kommt unterlassener Hilfeleistung gleich, welche auch im Vorfeld einer Gefahr laut Maimonides eine Sünde darstellt.
Zudem ist es ein Gebot, Gefährdungen zu kennzeichnen, um anderen und sich selbst dabei behilflich zu sein, die Gefahr zu erkennen und ihr auszuweichen. Diese einleuchtende Mizwa wird abgeleitet von der einfachen Aufforderung an Hausbauer, für ein Geländer auf dem Dach zu sorgen (5. Buch Mose, 22,8). Maimonides verweist darauf, dass eine Nichtbeachtung dieser Aufforderung einem Blutvergießen gleichkommt. Auch der Schulchan Aruch kommt zu diesem Schluss in seinen beiden letzten Kapiteln, die dem Thema Erhaltung und Rettung von Leben gewidmet sind.
risiken
So weit, so gut, halachisch gesehen. Politisch und medizinisch auch, sollte man meinen. Die Politik und die medizinische Fachwelt haben allerdings Mühe, vor allem Eltern davon zu überzeugen, ihre Kinder impfen zu lassen. Als Grund dafür nennen Ärzte vermehrt eine beobachtete Tendenz bei vielen Eltern, die Risiken einer Impfung höher zu bewerten als die einer Kinderkrankheit. Gegen diese gefährliche Einstellung würden auch aufklärende Gespräche wenig nützen.
Um sie zu korrigieren, ist nicht nur Aufklärung geboten, also rationale Argumente. Es geht schließlich um die eigenen Kinder, und die stehen Eltern freilich näher als die Allgemeinheit. Es geht also auch um Emotionen, und wenn überhaupt, können nur emotionale Argumente da helfen, ähnlich wie bei Warnhinweisen auf Zigarettenschachteln. Vielleicht sollte das Bundesgesundheitsministerium entsprechend warnen, wenn es um Impfungen gegen Masern geht? Auf jeden Fall gilt: Beim Impfen geht es um uns alle – ausnahmslos.
Die Autoren sind als Rabbiner in der Budge-Stiftung und als Arzt in Frankfurt/Main tätig.
Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 5.3.2015.
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