„Wir sind vier Monate hintendran“
Interview in "die tageszeitung"Rabbiner Daniel Alter, Antisemitismus-Beauftragter der Jüdischen Gemeinde Berlin, über die Sorge, dass Flüchtlinge neuen Judenhass nach Deutschland bringen.
taz: Herr Alter, jede Woche kommen Tausende Flüchtlinge aus arabischen Ländern nach Deutschland. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, hat sich besorgt geäußert, weil diese Menschen antisemitische Einstellungen mitbrächten. Macht Ihnen das auch Angst?
Daniel Alter: Angst ist ein großes Wort. Aber wir haben durchaus Anlass, bewusst hinzusehen und zu überlegen, welche Folgen das hat. Jenseits jeder Panikmache wissen wir, dass es in arabisch-islamischen Gesellschaften ein relevantes Problem mit Judenhass gibt. Und die Flüchtlinge, die kommen, stammen ausnahmslos aus undemokratischen, diktatorischen Verhältnissen. Nach Schätzungen sind rund 20 Prozent nicht alphabetisiert – unter diesen Umständen sind Menschen anfälliger für Polemik und Manipulation. Ich könnte mir vorstellen, dass es solche Ängste nicht nur unter uns Juden, sondern beispielsweise auch in der schwul-lesbischen Community gibt.
Und was folgern Sie daraus?
Für mich steht völlig außer Frage, dass wir allen, die von Verfolgung oder Krieg bedroht sind, so gut, wie wir können, Asyl bieten müssen. Aber wir sollten das nicht blauäugig tun. Das sind real existierende Probleme, mit denen wir umgehen müssen und auch umgehen können. Aber wir können uns nicht hinsetzen und sagen: Gucken wir mal. Diese Willkommenskultur, dass Leute sich ins Auto setzen, um Flüchtlinge aus Österreich zu holen, das ist klasse. Es darf nur nicht der letzte Schritt gewesen sein.
Sondern?
Wir müssen denen, die in unsere Gesellschaft aufgenommen werden wollen, klar vermitteln, dass wir Werte haben, dass wir keine Gesellschaft im luftleeren Raum sind. Zu diesen Werten gehören das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Religionsfreiheit, die Nichtakzeptanz jeder Form von Ungleichheitsideologie. Diese Werte waren nicht von Anfang an da, um die haben wir viele Jahre gekämpft. Jetzt ist es wichtig, zu diesen Werten zu stehen. Wir sollten gar nicht erst an den Punkt zu kommen, sie einfordern zu müssen. Die Integration muss jetzt schon anfangen. Eigentlich sind wir schon vier Monate hintendran.
Jedenfalls fordern Sie keine Begrenzung der Aufnahme.
Ich persönlich bin sehr für die Aufnahme von Flüchtlingen. Ja, es kommen sehr, sehr viele Menschen, aber ich glaube, dass das machbar ist. Nehmen Sie die jüdische Community, die war Mitte der achtziger Jahre auf rund 25.000 Mitglieder geschrumpft. Inzwischen sind wir bei 120.000. Wir haben uns innerhalb von 30 Jahren verfünffacht, fast ausschließlich durch Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion. Das war eine ungeheure Herausforderung, aber wir hatten glücklicherweise eine funktionierende Infrastruktur, innerhalb der wir die Integration organisiert haben, als klar war, was geschehen wird. Genau das müssen wir auch als Gesellschaft tun.
Wie denn?
Es gibt ja bereits viele Nichtregierungsorganisationen, die Integrationsangebote machen. Da brauchen wir dringend eine Bestandsaufnahme und eine Koordinierung. Aber Bund und Länder müssen auch eigene Initiativen starten. Ein Beispiel: Der Antisemitismusbericht des Bundestags hat schon 2012 empfohlen, den Umgang mit Antisemitismus in die Lehrerausbildung aufzunehmen. Nach meinem Kenntnisstand hat das kein Bundesland seitdem getan. So etwas können wir uns nicht leisten. Wir wollen ja, dass die Kinder der Flüchtlinge in unsere Schulen gehen, und unser Schulsystem soll ihnen unsere demokratischen Grundwerte vermitteln. Da dürfen wir die Lehrer nicht allein lassen. Ein Lehrer kann ein pädagogisches Ass sein, aber wenn der vor einer Klasse mit 90 Prozent muslimischen Schülern steht und es kommt zu antisemitischen Ausbrüchen – der ist höchstwahrscheinlich überfordert. Er hat nicht die pädagogischen Instrumente, um dem etwas entgegenzusetzen.
Sie haben mit Schülern selbst Erfahrung.
Ich bin an „meet2respect“ beteiligt, einem Projekt, das hauptsächlich über die Religion arbeitet. Die Grundidee: Ein Imam und ein Rabbiner gehen in Schulklassen mit überwiegend muslimischen Schülern, wenn es Probleme mit Judenhass gegeben hat. Wir arbeiten aber auch in anderen Konstellationen, zum Beispiel Politiker und Imam, wenn es um Islamfeindlichkeit geht.
Und dann diskutieren Sie mit der Klasse über den Nahostkonflikt?
Das ist oft ein Auslöser. Dazu vertreten der Imam und ich vor den Schülern unisono die Auffassung, dass es sich um einen politischen und militärischen Konflikt handelt, der tragisch ist, der viele unschuldige Menschen trifft, und zu dem man unterschiedlicher Meinung sein kann. Aber dass das kein Grund ist, sich an die Gurgel zu gehen, salopp gesagt. Jedes Mal, wenn wir das sagen, ist das Thema eigentlich durch.
Was heißt das?
Es kommt keine weitere Frage mehr.
Aber was bleibt hängen?
Im Nachgang kommen öfter mal Schüler zu mir und sagen Dinge wie: Ich komme aus dem Libanon, mein Vater hat früher in der Nähe von Akko gewohnt und erzählt immer, dass früher alle friedlich nebeneinander leben konnten. Wenn solche Statements kommen, weiß ich, dass wir jemand mitnehmen konnten. Das ist unglaublich wichtig. Alle werden wir sicher niemals erreichen.
Man hat ja auch nicht immer einen Imam und einen Rabbiner zur Hand ...
Aber es gibt viele Experten für den Umgang mit solchen Problemen, auch aus der muslimischen Community selbst. Nehmen Sie Ahmad Mansour vom Antigewalt-Projekt „Heroes“, der über Berlin hinaus bekannt ist, Initiativen wie der Verein Karame, Moscheen wie die Şehitlik-Moschee. Es gibt die Initiativen, wir müssen sie aber sinnvoll koordinieren. Übrigens ist es ja nicht die Community, die frauenfeindlich, antisemitisch oder homophob ist, es sind Individuen in der Community. Ich sehe hier eher andere Probleme.
Nämlich?
All diese Organisationen sind von öffentlichen Geldern abhängig, und die werden Jahr für Jahr gekürzt. Einige freie Träger kämpfen ums Überleben. Es darf einfach nicht sein, dass in diesen Initiativen Konkurrenzdenken entsteht, weil insgesamt zu wenig Geld da ist.
Gibt es eigentlich einen religiösen Kern des Antisemitismus bei Muslimen?
Es gibt diese Problematik, ja. Es gibt judenfeindliche Koransuren und Hadithen, und wenn wir in die islamische Geschichte schauen, finden wir immer wieder Beispiele von Diskriminierung und Stigmatisierung: Der gelbe Stern war keine Erfindung der Nazis. Seit dem 8. Jahrhundert wurden Juden in verschiedenen islamischen Herrschaftsbereichen gezwungen, äußerliche Zeichen zu tragen, eines der markantesten war ein gelber Punkt an der Kleidung. Wenn Sie mit älteren jüdischen Migranten aus islamischen Ländern sprechen, finden Sie massive Anzeichen sehr problematischer Beziehungen. Trotzdem ist die Frage natürlich: Wie geht man damit um?
Kann man Brücken bauen?
Natürlich. Es erfordert nur eben Energie und Ausdauer. Religionsphilosophisch sind sich ja Judentum und Islam näher als Judentum und Christentum oder Islam und Christentum. Das ist immer wieder eine wichtige Erkenntnis für junge Muslime: Die essen auch kein Schweinefleisch, die haben ein ähnliches Gottesverständnis wie wir, es gibt ähnliche rituelle Konzepte. Das Konzept der rituellen Reinheit heißt im Islam „Tahara“, und wir haben im Judentum genau das gleiche Wort dafür.
Eine Studie des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin legt nahe, der Antisemitismus in der muslimischen Community sei auch eine Reaktion auf die Diskriminierung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Ich kann das ehrlich gesagt nicht nachvollziehen. Wenn dem so wäre, würde es ja zum Beispiel in Algerien, Tunesien, Saudi-Arabien oder im Iran wesentlich weniger Antisemitismus geben als hier. Ich glaube nicht, dass das zutrifft.
Jetzt haben wir viel über die muslimische Community gesprochen. Und die Mehrheitsgesellschaft? Delegiert die womöglich ihren Antisemitismus an die Muslime?
Es gibt die Gefahr, dass wir über die Beschäftigung mit dem Judenhass in der muslimischen Community auf dem anderen Auge blind werden. Laut dem bereits erwähnten Bericht des Bundestags weisen rund 25 Prozent der Kerngesellschaft einen latenten Antisemitismus auf. Also kein „Ich hasse alle Juden“, sondern Denkmuster wie „Ich habe nichts gegen Juden, aber auf die Politik haben die schon zu viel Einfluss.“ Da kommen ein paar Prozent offene, „ehrliche“ Antisemiten noch dazu. Das ist schon richtig viel.
Welchen Formen von Antisemitismus begegnen Sie im Rahmen Ihrer Arbeit?
Wir bekommen ja immer wieder von Judenhass motivierte Zuschriften, vor allem, wenn es im Nahostkonflikt eine neue Eskalationsstufe gibt. Mein Eindruck ist, dass die zunehmend von gebildeten Menschen, auch Intellektuellen, kommen. Das sind Leute, die sich richtig geschickt ausdrücken. Wir müssen uns immer öfter mit Aussagen auseinandersetzen, die vor Hass nur so triefen, aber keinen Straftatbestand erfüllen. Etwa: „Wenn ihr euch in Gaza weiter aufführt wie die Nazis im Warschauer Ghetto, müsst ihr euch nicht wundern, wenn etwas passiert.“ Das wird auch nicht mehr anonym verschickt, sondern oft mit Name und Adresse.
Und im Alltag?
Vielleicht haben Sie gehört, dass der jüdische Fußballverein Makkabi in der vergangenen Zeit üble Probleme mit Beschimpfungen und Bedrohungen auf dem Platz hatte. Das weckt sehr ungute Assoziationen. Denn wenn das so weitergeht, können Juden in Deutschland keinen Fußball mehr spielen. Ich selbst habe irgendwann aufgehört, zu Bundesligaspielen zu gehen, als Fans angefangen haben, „Jude, Jude“ zu skandieren, wenn der Schiedsrichter gegen die Heimmannschaft pfeift. Ein brennendes Problem ist für mich auch, dass auf den allermeisten Berliner Schulhöfen das Wort „Jude“ täglich als Schimpfwort verwendet wird.
Sie selbst sind vor drei Jahren tätlich angegriffen worden, weil Sie als Jude identifiziert wurden. Die Frage, ob man als Jude erkennbar gefahrlos durch Neukölln laufen kann, ist schon fast sprichwörtlich.
Neuköllns ehemaliger Bürgermeister Heinz Buschkowski meinte einmal, ich müsse mir da keine Sorgen machen – später räumte er ein, morgens um halb vier sei es vielleicht doch nicht angeraten, mit der Kippah durch den Bezirk zu laufen. Überlegen Sie doch mal, was das bedeutet. Wenn ich um halb vier die Kippah besser verberge, sollte ich sie um halb drei und um halb fünf besser auch nicht zeigen. Und um halb sechs? Leider kann ich es nie gefahrlos tun. Wenn Sie als Jude identifiziert werden, können Sie große Probleme bekommen, nicht nur in Neukölln. Wir haben deshalb versucht, ein alternatives Meldesystem zu schaffen, denn die Statistiken halten wir nicht wirklich für realitätsnah.
Wieso das?
Erstens besteht eine gewisse Anzeigemüdigkeit. Sagen wir, ich sehe ein Graffiti. Das ist mir selbst vor ein paar Jahren mit meiner Tochter am Spielplatz passiert. „Juden verreckt“, stand da. Ich kann mich damit an die Polizei wenden, aber dann verbringe ich zwei Stunden für eine Anzeige gegen Unbekannt, die einfach keinen Erfolg haben kann. Da entsteht schon eine gewisse Frustration. Zweitens gibt es Fälle, bei denen das Delikt nicht als Hate Crime, sondern etwa irrtümlich als Sachbeschädigung identifiziert wird. Etwa wenn jemand etwas auf einen Briefkasten geschmiert hat.
Lassen Sie uns in die Zukunft blicken. Wird die Aussage „Du Jude“ irgendwann keine Beschimpfung mehr sein?
Das wäre wunderschön. Wann es passieren wird, weiß ich nicht. Ich muss da an Ajax Amsterdam denken, den holländischen Fußballverein. Irgendwann fingen gegnerische Fans an, die Ajax-Fans mit „ihr Juden“ zu beschimpfen. Was war die Reaktion der Ajax-Fans? Sie haben sich hingestellt und „Wir sind Juden, wir sind Juden!“ gesungen. Wenn so etwas passiert, sind wir auf einem guten Weg. Das muss aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Und wir brauchen das Verständnis, dass die Bekämpfung von Antisemitismus kein Kampf für die Juden ist, sondern für den Erhalt der demokratischen Zivilgesellschaft.
Sind sie da Optimist?
Ich bin ein religiöser Mensch! (lacht)
DANIEL ALTER
Jahrgang 1959, studierte Jura, Judaistik und Pädagogik. Nach der Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam wurde er 2006 zum Rabbiner ordiniert.
Im Sommer 2012 wurde er in Friedenau von Jugendlichen angegriffen, die ihn als Juden identifiziert hatten. Noch im selben Jahr wurde er Antisemitismus-Beauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
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