Frankfurter Modell
Raum für Pluralismus - Wie schon in Frankfurt beten auch in Hamburg und Stuttgart Liberale und Orthodoxe im selben Haus»Wer die Einheit will, muss die Vielfalt suchen. Und wer die Vielfalt will, muss die Einheit suchen.« Wenn Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, für Pluralität in den Gemeinden wirbt, dann spricht er immer auch in eigener Sache. Denn seine Heimatgemeinde in Frankfurt gilt, was das Miteinander der unterschiedlichen Strömungen innerhalb des Judentums betrifft, als vorbildlich: »Liberale, Orthodoxe und Ultraorthodoxe beten unter dem Dach einer Synagoge. Das ist einzigartig in ganz Europa«, lobt Graumann ein Phänomen, das in Deutschland mittlerweile als sogenanntes »Frankfurter Modell« Schule macht. BUBIS Als dessen Begründer sieht Graumann den früheren, 1999 verstorbenen Zentralratsvorsitzenden Ignatz Bubis an. Dessen liberaler Geist präge das Gemeindeleben bis in die Gegenwart hinein, ist Graumann überzeugt. So hatte sich Bubis bereits in den 90er-Jahren dafür starkgemacht, dass der Frankfurter Egalitäre Minjan in die Einheitsgemeinde integriert wurde. Denn er sei überzeugt gewesen: »Jeder soll nach seiner Fasson jüdisch sein«, wie Graumann die Haltung seines Mentors und Förderers zitiert. Am vergangenen Schabbat hatte der Egalitäre Minjan den Gemeindevorstand zum Gottesdienst eingeladen. Also machten sich Jennifer Marställer, die neue Verwaltungsdirektorin, und Gemeinderatsmitglied Boris Milgram über den schmalen Gang im Foyer auf den Weg von der Hauptsynagoge zur einstigen Wochentagssynagoge im Seitenflügel des Gotteshauses, um den liberalen Nachbarn einen Besuch abzustatten. Für Jennifer Marställer war das in jedem Fall eine Premiere, wurde sie doch gleich, eingehüllt in einen schnell ausgeliehenen Tallit, zur Tora aufgerufen. KOLLEGIAL »Auch wir Liberale fühlen uns der Einheitsgemeinde verpflichtet«, betont die Frankfurter Rabbinerin Elisa Klapheck. Zu den beiden orthodoxen Rabbinern Menachem Halevi Klein und Julien Chaim Soussan habe sie ein »kollegiales, wenn nicht sogar freundliches Verhältnis«, sagt sie. »Rabbiner Soussan und ich sind oft zu denselben Veranstaltungen eingeladen. Erst neulich saßen wir beim Gemeindetag zusammen auf dem Podium.« Man respektiere einander. »Die Kompetenz zählt« – mehr als etwaige Unterschiede, ist sie überzeugt. Klapheck schätzt es, dass der Vorstand für ein »pluralistisches Verständnis der Einheitsgemeinde« eintritt und die Entscheidungen beider Rabbinerkonferenzen des Zentralrates – der liberal orientierten Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) ebenso wie der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ORD) – respektiert. Dementsprechend kann in der Frankfurter Gemeinde Mitglied werden, wer von einer der beiden Konferenzen anerkannt wird. Problematisch sei es hingegen in Gemeinden, die nur einen Rabbiner haben, wenn dieser allein entscheidet, wer aufgenommen wird. Während also in Frankfurt Liberale und Orthodoxe unter dem gemeinsamen Dach der Westend-Synagoge beten, trennt die jüdische Gemeinschaft Kiels ein ganzes Meer. So kommen die Liberalen
westlich der Kieler Förde zum Gottesdienst zusammen, während sich die Orthodoxen an deren Ostufer versammeln. Das sagt einiges über deren Miteinander aus, ebenso die Tatsache, dass es im nördlichsten Teil Deutschlands darüber hinaus zwei Landesverbände gibt, die orthodoxe Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein und den Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Schleswig-Holstein. Gleichwohl betont Igor Wolodarski, Vorsitzender der (orthodoxen) Gemeinde Kiel und Region, dass der Kontakt zwischen beiden Gruppen »sachlich und normal« sei. HAMBURG Nur ein wenig südlicher, in Hamburg, ist das Frankfurter Modell durchaus ein Begriff, die Lage aber gleichzeitig kompliziert. Ihrem Selbstverständnis nach handelt es sich auch hier um eine Einheitsgemeinde, in deren Verfassung sogar festgeschrieben ist, dass »allen Richtungen des Judentums im Rahmen der Möglichkeiten der Gemeinde Gelegenheit zur Betätigung gegeben« werden solle. Dennoch hat sich 2004 eine neue Liberale Gemeinde in der Hansestadt gegründet, die mittlerweile rund 400 Mitglieder zählt, einen eigenen Landesrabbiner stellt und sich der Dachorganisation Union progressiver Juden in Deutschland angeschlossen hat. »Das Verhältnis zur orthodoxen ›Einheitsgemeinde‹ ist schlecht, da diese uns nicht anerkennt«, erklärt Vorstandsmitglied Walter Georgy der Jüdischen Allgemeinen. Zusätzlich fand sich 2011 ein Egalitärer Minjan zusammen, dessen Mitglieder sich bewusst dafür entschieden haben, innerhalb der Einheitsgemeinde zu wirken: »Wir sehen uns als eine Ergänzung, nicht als Konkurrenz«, hatte Gründungsmitglied Peter Zamory damals erklärt. »Es leben nur circa 200.000 Juden in Deutschland. Wenn wir uns noch weiter aufsplitten, ist das nicht der richtige Weg.« »Frankfurt ist für uns natürlich eine Orientierung«, sagt auch Roy Noar, Mitglied im Vorstand der Hamburger Einheitsgemeinde und der Sprecher dieses Gremiums. Das vielfältigere Angebot an religiöser Praxis habe sich bewährt, ist er überzeugt. »Wir unterstützen die liberale Strömung finanziell und logistisch und wollen das noch weiter ausbauen«, verspricht er. So darf der Egalitäre Minjan Räume im Gemeindezentrum für seine Gottesdienste nutzen. Nun möchte die Gemeinde sogar einen liberalen Rabbiner einstellen. Man stehe bereits im Gespräch mit mehreren Kandidaten, heißt es. »Aber eines ist sicher«, verrät Noar: »Der orthodoxe Landesrabbiner wird den Arbeitsvertrag für den liberalen Kollegen mitunterschreiben. Damit setzen wir ein schönes Signal!« PROBE In der Berliner Gemeinde sind liberale und konservative Gottesdienste selbstverständlich. Anders schien es zunächst in Stuttgart zu sein. Mit dem Finger hätten sie immer auf Frankfurt gewiesen, erinnert sich Susanne Jakubowski, und dabei gesagt: »Lasst es uns doch auch ausprobieren!« Denn der Wunsch, ein liberales Judentum zu leben, habe seit etlichen Jahren viele in der Stuttgarter Gemeinde bewegt. Bis man sich endlich zusammenfand, eine Unterschriftenaktion startete und einen ersten gemeinsamen Gottesdienst abhielt: »Darauf habe ich seit 20 Jahren gewartet«, schrieb daraufhin jemand in einem Brief an Jakubowski. Inzwischen, so die stellvertretende Vorstandssprecherin der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW), habe sich »eine gewisse Normalität eingespielt«. In jedem Monat findet ein liberaler Gottesdienst in Reutlingen, Esslingen oder Heilbronn statt, in jedem zweiten Monat versammle man sich auch in der Stuttgarter Einheitsgemeinde zum gemeinsamen, liberal geleiteten Gebet. Wie in Frankfurt stellt die Gemeinde dann eine kleine Synagoge innerhalb der Hauptsynagoge zur Verfügung. Und sogar die Gemeindezeitung druckt mittlerweile die Gottesdienstzeiten der Liberalen ab. Denn »wir wollen die Pluralität leben, ohne dass die Einheit dadurch auseinanderbricht«, erklärt Barbara Traub, Vorstandssprecherin der IRGW. ORTHODOXIE Traub selbst fühlt sich eher der modernen Orthodoxie verpflichtet, doch sieht sie ihre Aufgabe darin, »eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Denominationen zu bauen«. Bislang ist dieses Vorhaben am Widerstand der Orthodoxie gescheitert. Insofern hinkt in diesem Fall die Theorie bislang der Praxis hinterher. Eine Satzungskommission ist gerade gewählt worden und wird dieses Ziel mitformulieren (vgl. Jüdische Allgemeine vom 19. Dezember). Denn sogar auf der offiziellen Website der IRGW sind die Liberalen mittlerweile vertreten: unter der selbstironischen Adresse unorthodox@irgw.de.
Doch das Frankfurter Modell strahlt auch auf andere europäische Städte aus – etwa auf die liberale Chawura Ofek in Basel, die um ihr Zuhause innerhalb der Israelitischen Gemeinde kämpft, oder auf Warschau, wo sich die progressive Gemeinde Ec Chaim mit ihrem liberalen Rabbiner Stas Wojciechowicz als Teil der ansonsten orthodox dominierten Einheitsgemeinde versteht.
Barbara Goldberg,
Jüdische Allgemeine, 2.1.2014.
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