Religion in der demokratischen Öffentlichkeit
Rede anlässlich der Woche der Brüderlichkeit in LeipzigVon Rabbinerin Elisa Klapheck
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Jung,
sehr geehrter Bischof Mussinghoff,
sehr geehrte Rabbiner beider Rabbinerkonferenzen,
sehr geehrte Vertreter der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz,
sehr geehrte Damen und Herren,
als ich eingeladen wurde, anlässlich der Woche der Brüderlichkeit über die Bedeutung der Religion in der demokratischen Öffentlichkeit zu sprechen, habe ich nicht weiter darüber nachgedacht, dass dies in Leipzig geschehen wird. Aber jetzt, da ich vor Ihnen stehe, empfinde ich eine besondere Freude darüber, als Rabbinerin in gerade diese Stadt eingeladen worden zu sein. Vorhin besuchte ich den Friedensgottesdienst in der Nikolai-Kirche - jener Kirche, in der das Ende der DDR-Diktatur mit eingeläutet worden war. Es streifte mich dabei ein Hauch von der Kraft, die 1989 das SED-Regime stürzte, und es bestätigte sich für mich noch ein Mal, was Religionen meiner Überzeugung leisten sollten: den Menschen Kraft zu geben, um Unrecht zu überwinden. Sicherlich kann ich auch im Namen vieler Juden sagen, dass der Mut, den die Leipziger Bevölkerung 1989 bewiesen hat, mit dazu beigetrug, dass sich heute Menschen wie ich gern zu ihrem Leben in Deutschland bekennen.
Damit sind wir beim Thema: die Bedeutung der Religion in der demokratischen Öffentlichkeit.
Trotz des gerade angedeuteten inneren Zusammenhangs zwischen Religion und politischer Freiheit, das heißt: der Kraft, Unrecht und Unterdrückung zu überwinden, hat die Rolle der Religionen im demokratischen Rechtsstaat in den vergangenen Jahren einen ambivalenten Beigeschmack bekommen. Mit der Konfrontation des radikalen Islams stellte sich die Frage, ob Religionsfreiheit vorbehaltslos gewährt werden kann, oder ob Religionen nicht zunächst in einer Bringschuld stehen, eine mit dem demokratischen Rechtsstaat kompatible Version von sich zu bieten. Juden und Christen meinten, dies längst geleistet zu haben. Doch mit den Kontroversen, wie um das Tragen des Kopftuches von Musliminnen, ging es plötzlich auch um die Zulässigkeit von christlichen und jüdischen Symbole im öffentlichen Raum. Die Furcht vor muslimischen Parallelgesellschaften brachte zugleich eine Identitätsdebatte mit sich, wie christlich und vielleicht sogar auch jüdisch unsere Gesellschaft sei.
In jedem Fall ist sie von christlichen und jüdischen Werten geprägt, als das demokratische System, das wir praktizieren, auf religiösen Grundannahmen baut, die sich von dem Gebot der Achtung der Menschenwürde herleiten. Damit geht es auf eine allerhöchste Instanz zurück, die uns Kriterien vorgibt, nach der wir unsere Gesellschaft zu gestalten haben. Die meisten hier im Saal nennen diese Instanz „Gott“. Diejenigen, die dies nicht tun, aber dennoch einem inneren Maßstab folgen, der zwischen Recht und Unrecht unterscheidet, sind deswegen nicht unreligiös. Indem auch sie sich auf die Menschenwürde berufen, stellen sie die Politik in einen religiösen Horizont. Zur Menschenwürde gehört, dass der Mensch ohne in der Verbindung mit anderen Menschen nicht denkbar ist und dass er darum immer mehr ist als er selbst. Dieses über ihn selbst hinausgehendes Mehr ist die Bedingung dafür, dass Menschen Gemeinschaft bilden und Politik gestalten können, dass sie Werte teilen, eine Zukunft haben und Kriterien aufstellen, die sie nur zu vielen verwirklichen können.
Das in jedem Menschen liegende, jedes Mal jedoch etwas anders nuancierte politische Potential dieses Mehr, das wir oftmals von Gott her als Bestimmung und selbst Erwählung zur Verwirklichung von etwas gewahren, findet seine maximale Ausgestaltungsmöglichkeit in einem demokratischen Rechtsstaat. Er vermag dem Recht, sich selbst und dabei auch wieder anders zu sein, einen Rahmen zu bieten, der dieses Recht sowohl konkretisiert, als es auch am Recht der Anderen begrenzt. Darum ist das im Grundgesetz festgelegte demokratische System aus durchaus religiösen Gründen nicht verhandelbar.
Die politische Sphäre enthält also eine von vornherein religiöse Dimension. Und die religiöse Dimension fordert die religiösen und nichtreligiösen Weltanschauungen aller Mitglieder der Gesellschaft heraus. Dabei geht es nicht nur darum, die Spezifika einer jeweiligen religiösen Tradition zu schützen. Die Vorstellung, dass sich die Rolle der Religion in der demokratischen Öffentlichkeit allein auf Debatten zum Schutz der jeweils eigenen Tradition bezieht, ist eine sehr beschränkte Auffassung von der Beziehung zwischen Religion und Politik. Dementsprechend sind nicht nur der Islam, sondern auch das Christentum und das Judentum heute herausgefordert, die Beziehung zwischen Religion und Politik und damit der Rolle der Religion in der demokratischen Öffentlichkeit neu zu bestimmen.
Diese Herausforderung fällt jedoch in eine Zeit, in der sich immer mehr Menschen von der Religion abkehren. Das hat zumeist weltanschauliche Gründe. Hinzu kommen Skandale innerhalb der institutionalisierten Religionen, durch die ein weiteres Maß an Glaubwürdigkeit verspielt wird. Mit der Abkehr von der institutionalisierten Religion haben allerdings nicht nur die Kirchen zu kämpfen. Es gibt auch immer mehr Juden, die sich als „säkulare Juden“ bezeichnen und denen die religiösen Werte zwar noch als ethische Allgemeinplätze wichtig sind, die aber die offizielle Religion als Institution ablehnen. Ich streite mich oft darüber, dass eine allein säkulare Einstellung, die nichts mehr von der Religion erwartet, keine Antwort auf die heutige Herausforderung enthält, sondern die religiöse Definitionsmacht und das Feld nur denjenigen radikalen Kräften überlässt, die abgelehnt werden. Deshalb bin ich für eine Verschiebung der Optik, in der sich das Verhältnis zwischen Religion und demokratischer Rechtsstaat in ein neues Verhältnis zueinander setzen können.
Voraussetzung hierfür ist zunächst ein Eingeständnis: Die Religion hat auch deshalb viel von ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil sie ihre konstitutive Mitverantwortung nicht nur in, sondern für eine demokratische Öffentlichkeit nicht ausreichend gewahrt. Die Abkehr vieler Menschen von der Religion geschieht nicht wirklich gegen die Religion, sondern weil nicht klar ist, was die Religion konstitutiv zur Demokratie beizutragen hat. Statt den demokratischen Rahmen selbst weiter auszugestalten, ist sie oftmals zum Rückzugsgebiet geworden, von dem aus die Wirklichkeit lediglich beobachtet, beurteilt und beklagt wird.
Diese Unüberbrückbarkeit hat etwas Paradoxes. Grundrechte, die uns selbstverständlich geworden sind, stammen aus der Religion selbst. Die Menschenwürde als Ausgangspunkt unseres politischen Systems begründet sich in der von der Hebräischen Bibel postulierten Ebenbildlichkeit Gottes in jedem Menschen. Aus ihr folgen Rechte wie die Gewissensfreiheit und Meinungsfreiheit, Berufsfreiheit und Versammlungsfreit – um der Gottesebenbildlichkeit mit dem eigenen Leben, aber auch in der Verbindung mit den Anderen eine Form geben zu können. Darüber hinaus steht die Menschenwürde im Zeichen einer Gleichheit aller Menschen vor Gott. Im politischen System schlägt sie sich als Gleichheit vor dem Gesetz nieder - als Recht auf gleiche Chancen, auf einen sozialen Rahmen, der ein Mindestmaß an gleichen Ausgangsbedingungen ermöglicht, das heißt ein Recht auf Grundversorgung und Bildung, auf persönliche Entwicklung und Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess.
Obwohl diese Grundrechte der Religion entstammen, müssen wir eingestehen, dass sie nicht unbedingt von den institutionalisierten Religionen erkämpft und durchgesetzt worden sind, sondern von säkularen Bewegungen und dies oft gegen den Widerstand der offiziellen Religion. Mir ist bewusst, dass diese Aussage in der Kürze der Darstellung zu holzschnitthaft ausfällt. Trotzdem muss, wenn das Spannungsfeld zwischen Religion und demokratischer Öffentlichkeit neu bestimmt werden soll, eingestanden werden, dass das Potential zur politischen Gestaltung von Freiheit zwar in den monotheistischen Religionen angelegt ist, diese es aber nur bedingt zu konkretisieren vermochten. Wir müssen also, wenn wir als religiöse Menschen auf das politische und dabei demokratiebildende Potential unserer religiösen Traditionen verweisen, zugeben, dass wir ein säkulares Gegenüber brauchen, weil wir es mit unseren religiösen Traditionen allein nicht schaffen. Die institutionelle Trennung von Staat und Kirche ist die Voraussetzung dafür, dass die guten demokratischen Potentiale der Religion in einem demokratischen Rechtsstaat verwirklicht werden können. Dieses Eingeständnis ist die Voraussetzung dafür, dass sich Religion und demokratische Öffentlichkeit in ein neues Verhältnis zueinander setzen können.
Heute folgt hierauf jedoch die zusätzliche Frage, ob die Trennung zwischen Staat und Kirche einen Schutzschild für die institutionalisierte Religion geschaffen hat, der das aktivierende, demokratiebildende Potential, das die Religion beizusteuern hätte, hemmt. Die Antwort hierauf fällt zwischen den religiösen Traditionen natürlich sehr unterschiedlich aus. Eine Schwerfälligkeit althergebrachter Traditionen, ein machterhaltendes Denken ihrer Repräsentanten, oder auch nur eine dünkelhafte Selbstgenügsamkeit, sich moralisch im Recht zu wähnen, ohne damit etwas an der Realität zu verändern, sind unterschiedliche Möglichkeiten, die guten politischen Potentiale der Religionen zu lähmen, wenn nicht zu blockieren.
Darum stellt sich heute die Frage, ob es die Aufgabe des säkularen, demokratischen Rechtsstaates geworden ist, Räume zu schaffen und sogar durchzusetzen, damit sich eine kritische Öffentlichkeit innerhalb der Religion entfalten kann. War es nicht allein die säkulare Kraft des Rechtsstaates, die bei den Missbrauchsskandalen in der Katholischen erst den Weg einer Läuterung zu weisen vermochte? Waren es, was meine eigene Religion betrifft, nicht erst die gerichtlichen Auseinandersetzungen vor den säkularen deutschen Gerichten, die dazu führten, dass das liberale Judentum vom orthodox geprägten jüdischen Gemeindeleben ernst genommen werden musste. Könnte es sein, dass es am Ende doch in der Verantwortung der allgemeinen, demokratisch verfassten Gesellschaft liegt, einen Rahmen zu schaffen, in dem auch ein progressiver Islam sich konstituieren kann, der innermuslimisch respektiert werden muss? Geht also der Auftrag der Gesellschaft an die Religionen nicht auch dahin, nicht allein bestehende Traditionen zu schützen, sondern ihre politischen Potentiale neu auf heutige Herausforderungen bezogen zu erschließen?
Allein schon die Frage geht in die Richtung, das Spannungsverhältnis zwischen Religion und säkularem Rechtsstaat neu zu überdenken. Damit ist auf keinen Fall eine Aufhebung der institutionellen Trennung zwischen Staat und Kirche gemeint. Denn beide brauchen sich gegenseitig, um sich zu verwirklichen. Wie die Religion das Eingeständnis leisten muss, das säkulare Gegenüber zu brauchen, um ihre guten politischen Potentiale zu verwirklichen – so muss auch umgekehrt der demokratische Rechtsstaat anerkennen, dass er mit Postulaten die Gesellschaft zum Guten gestaltet, die aus der Religion stammen.
Vielleicht kann die jüdische Religion zu diesem Spannungsverhältnis einen eigenen, hilfreichen Beitrag leisten, zumal sie – lange vor der Moderne - schon einmal eine konstitutive Transformation durchgemacht hat, in der ein säkulares Gegenüber als förderliche Instanz für das eigene, religiöse System angesehen wurde. Der rabbinische Ausdruck für „säkular“ heißt derech eretz (weltlicher Weg). Der Midrasch (spätantike rabbinische Auslegungen der Hebräischen Bibel) erklärt, dass es schon vor der Offenbarung der Tora am Berg Sinai, nämlich von Adam an 26 Generationen gegeben habe, die weltliche Wege kannten, auf denen sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Tora verwirklichten.
„Wer auf seinen Wandel auf aufmerksam ist, lasse ich Gottes Hilfe [auch wenn er die Religion der Tora nicht kennt] erblicken“ (Ps. 50:23) – d.i. wer seinen Weg abschätzt, ist viel wert, denn R. Ismael bar R. Nachman hat gesagt: der weltliche Weg ist der Tora um 26 Geschlechter vorangegangen, was sich aus Gen. 3:24 schießen lässt: „Zu bewachen den Weg zum Baume des Lebens“ – unter derech, Weg ist nichts anderes als derech eretz, weltlicher Weg, unter etz hachajim, Baum des Lebens nichts anderes als die Tora zu verstehen. – Wajikra Raba, Par. IX zu Kap. 7:11.
Das heißt nicht nur, dass auch die Nichtjuden Wege zur Tora kennen, sondern dass säkulare Wege ebenfalls zur Tora führen. Somit sind alle Menschen - in der Sprache der Bibel: alle Nachfahren Noachs - potentiell auf dem Weg zum „Baum des Lebens“. In den „noachidischen Gesetzen“ erkennt der Talmud die anderen Völker als dem Volk Israel gleichwertig an, wenn sie sich an sieben ethische Mindeststandards halten; an erster Stelle steht ein säkulares Rechtswesen. (BT, Sanhedrin 56b) Wenn die eigenen Gerichte versagten, sah der Talmud es in bestimmten Fällen für legitim an, die säkularen Gerichte des babylonischen Staates um Hilfe zu bitten. Ein hochstehender Richter eines jüdischen Rabbinatsgerichts sollte idealerweise die „siebzig Sprachen der Welt“ sprechen – also ein Kosmopolit zu sein, der die Welt kennt. (BT, Sanhedrin 17b) Das produktive Spannungsverhältnis der eigenen Religionen zur größeren säkularen Gesellschaft, in der auch anders angelegte „Wege“ zur Tora führen, drückt sich überdies in Segenssprüchen aus, die ausdrücklich Nichtjuden gelten:
„Die Rabbanan lehrten: Wer Weise von Israel sieht, spreche ‚Gepriesen sei er, der von seiner Weisheit denen, die ihn fürchten, mitgeteilt hat‘. Wer Weise von den weltlichen Völkern sieht, spreche ‚Gepriesen sei er, der von seiner Weisheit an Menschen aus Fleisch und Blut gegeben hat‘. Wer Könige von Israel sieht, spreche ‚Gepriesen sei er, der von seiner Herrlichkeit denen, die ihn fürchten, mitgeteilt hat‘. Wer Könige von den weltlichen Völkern sieht, spreche: ‚Gepriesen sei er, der von seiner Herrlichkeit an Menschen aus Fleisch und Blut gegeben hat‘. R. Jochanan sagte: Der Mensch bemühe sich stets, Königen von Israel entgegenzueilen. Aber nicht nur Königen von Israel, sondern auch Königen der weltlichen Völker, denn wenn es ihm beschieden ist, wird er den jeweiligen Wert unterscheiden können, zwischen den Königen von Israel und den Königen der weltlichen Völker.“ - Bab. Talmud, Berachot 58a.
Als Rabbinerin, die in einer religiösen Tradition steht, die um die Notwendigkeit eines säkularen Gegenübers weiß, meine ich, dass sich heute die Rolle die Religion in der demokratischen Öffentlichkeit nicht allein auf die Selbstbehauptung bestimmter, bestehender Traditionen mit ihren institutionalisierten Glaubensgrundsätzen beschränkt. Vielmehr eröffnet sich mit der Frage nach der Bedeutung der Religion in der Politik zugleich die Frage nach der religiösen Dimension in der Politik und dem politischen Horizont, in dem jede religiöse Tradition zu verstehen ist. In diesem Spannungsfeld ist die demokratische Öffentlichkeit ein notwendiges säkulares Gegenüber, von dem die religiösen Traditionen notwendige Anstöße erhalten, um ihr Eigenes zu verwirklichen. In diesem Spannungsfeld sollten wir uns verstehen und dieses nicht nur als gegeben hinnehmen, sondern es aus den Werten unserer Religion immer wieder selbst herstellen wollen.
Rede im Alten Rathaus der Stadt Leizig, anlässlich der Woche der Brüderlichkeit, 12.3.2012
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