„Keine Stolperstein-Juden“
Rabbiner Yuval Katz Wilfing über jüdische Identität, Gemeindeaufbau und Mut zur ÖffentlichkeitKannst Du etwas über Deinen persönlichen und religiösen Werdegang erzählen? Was hat Dich dazu bewegt, Rabbiner zu werden?
Ich habe mich früh für Religion interessiert – ihre Kraft, aber auch ihre Ambivalenz. Religion ist wie eine soziologische Atomkraft: Sie kann Großes bewirken, im Guten wie im Schlechten.
Ich bin in Israel in einer säkularen/traditionellen Familie aufgewachsen, lebte aber als Kind einige Jahre in den USA, in Oklahoma. Dort war ich der einzige Jude an meiner Schule – das hat mein Verhältnis zum Judentum verändert. Ich habe verstanden, dass jüdisches Leben außerhalb Israels aktives Engagement braucht.
Zurück in Israel habe ich in einem Kibbutz in Galiläa gelebt in die Nähe von Kiryat Schmona, umgeben von verschiedenen jüdischen Traditionen – kurdisch, marokkanisch, indisch. Später habe ich Informatik und Religionswissenschaft studiert, kam dann nach Wien als Chip-Designer. Dort wurde ich in der jüdischen Gemeinde aktiv, gab Unterricht, lernte weiter. Und mit der Geburt meiner Kinder wurde der Wunsch, Rabbiner zu werden, stärker.
Nach meinem Doktorat begann ich 2020 mit dem Rabbinatsstudium in Jerusalem – durch Corona anfangs online, das letzte Jahr dann vor Ort. Es war intensiv: Studium, Postdoc und Familie gleichzeitig.
Du hast Dich wissenschaftlich mit der Seele und Konversion im Judentum beschäftigt. Was war Dein Zugang?
In meinem Masterstudium ging es um messianisches Judentum und die Identitätsfrage zwischen Judentum und Christentum. Im Doktorat habe ich mich auf Genesis 12,5 konzentriert: „die Seelen, die sie gemacht hatten“. Wer sind diese Seelen? Konvertiten? Sklaven? Schüler?
Mich interessiert, wie sich die Begriffe über die Jahrhunderte ändern. In der Bibel gibt es keinen „Giur“ – das Konzept entsteht erst später. Wenn wir vom „Jude sein“ sprechen, gibt es zwei Tore in das jüdische Volk, ein Tor durch den Mutterlaib – Jude per Ethnizität. Aber das einzige wirklich religiöse Tor ist der Giur. Dort können wir die Grenzen zwischen jüdischer Religion und nichtjüdischer Religion sehen und was es bedeutet, Jude zu sein. Letzterer ist der einzig bewusste.
Und später, etwa im Sohar, geht es nicht mehr nur um Praktiken, sondern um metaphysische Prozesse – um das Haben einer jüdischen Seele. Ich finde es faszinierend, wie sich die Bedeutung von „Jüdisch sein“ über die Zeit und Quellen verändert.
Du lebst in Wien – wie kam es zum Kontakt mit Braunschweig, und wie ist Dein Eindruck der Stadt und Gemeinde?
Braunschweig war für mich lange „exotisch“. Meine erste Begegnung war mit 14 Jahren durch die Städtepartnerschaft mit Kirjat Tiwon bei Haifa, bei der meine Cousine aktiv war. Ich dachte damals, Braunschweig sei nach Berlin die zweitwichtigste Stadt Deutschlands! Jetzt weiß ich: Es ist die wichtigste.
Ich versuche, die Stadt kennenzulernen, wohne immer wieder in verschiedenen Stadtteilen. Und ich entdecke viel: Stolz auf lokale Geschichte, große Namen wie Lessing oder Gauß – und eine spannende jüdische Vergangenheit.
Die jüdische Gemeinde in Braunschweig ist sehr anders als in Wien. Dort gibt es ein großes, vielfältiges jüdisches Leben – hier ist es kleiner, zurückhaltender, vorsichtiger. Das prägt auch die Herausforderungen.
Was möchtest Du in Deiner rabbinischen Arbeit in Braunschweig besonders stärken?
Die Welt ruht auf drei Dingen: Tora, Gottesdienst und guten Taten. In Braunschweig gibt es schöne Gottesdienste, viel soziales Engagement – aber weniger Toralernen. Ich möchte Schiurim anbieten, zeigen, wie spannend und freudvoll das Lernen sein kann.
Viele Menschen wissen gar nicht, welche Fragen man einem Rabbiner stellen kann. Sie wissen nicht, was sie nicht wissen – „unknown unknowns“. Ich möchte ein bisschen Licht in die Dunkelheit bringen.
Möchtest Du auch Deinen Fokus auf interreligiöse Themen in Braunschweig einbringen?
Unbedingt. Ich arbeite schon lange im interreligiösen Dialog, etwa mit Mönchen in Niederösterreich. Auch Antisemitismus-Bekämpfung ist mir wichtig – nicht nur politisch, sondern theologisch. In rabbinischen Quellen wird Judenhass sehr unterschiedlich gedeutet. Das Wichtigste hier war, dass Judenhass von Gott kommt – wie alle anderen Dinge. Judenhass hat also eine Funktion. Die Frage ist: Welche Bedeutung hat Judenhass für die Juden? Wie sollen Juden mit Judenhass umgehen? Was bedeutet es für uns, dass es Judenhass gibt? Das ist eine riesige Frage und Herausforderung. Und wie können wir das unseren Gemeinden erklären?
Es gibt eine Stadt in der Nähe von Braunschweig – Wolfenbüttel. Direkt, wenn man in den Bahnhof hineinkommt, ist dort ein Monument für die Juden, ein Holocaust-Monument. Es gibt dort aber auch lebende Juden. Sie leben nur nicht in der Öffentlichkeit. Das sind versteckte Juden. Jedes Mal, wenn Menschen den Bahnhof passieren, sehen sie dieses Monument, aber niemand weiß, dass es dort Juden gibt. Juden sind nur Monument und Stolperstein. Und das ist sehr traurig.
In Braunschweig begegnet mir große Angst: Menschen wollen keine Briefe von der Gemeinde bekommen, keine Anrufe, keine Sichtbarkeit. Das kenne ich aus Wien in dieser Form nicht. Ich möchte das ändern – als Rabbiner in der Öffentlichkeit stehen, sichtbar sein, zeigen: Es gibt lebendige Juden, nicht nur Stolpersteine.
Gibt es rabbinische Persönlichkeiten, die Dich inspirieren?
Ich bin eklektisch geprägt. Ich lese Heschel und Soloveitchik, obwohl sie Gegensätze sind. Und ich beschäftige mich aktuell mit Rabbiner Herzfeld, einem meiner Vorgänger in Braunschweig. Seine Spannung zwischen Anpassung und Bewahrung des Judentums finde ich hochaktuell – und der Versuch der Balance zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Wie möchtest Du Dich in der Allgemeinen Rabbinerkonferenz einbringen?
Ich bin neu dabei und lerne noch. Mein Wunsch ist, dass die Konferenz pluralistisch bleibt – mit vielen Stimmen und trotzdem gemeinsamen Standards. Es gibt Spannungen zwischen Einheit und Vielfalt. Aber es gibt auch viel Potenzial zur Zusammenarbeit. Ich wünsche mir mehr Austausch von Materialien und Erfahrungen – gerade für jemanden wie mich, der nicht in Deutschland sozialisiert wurde.
So kann man dann auch voneinander profitieren.
Ja, es gibt wirklich viele Ressourcen, die nur in der jeweiligen Gemeinde bleiben, und wir sollten einen Weg finden, das zu teilen.
Das ist nicht so leicht! Nun kommen wir zur letzten Frage. Möchtest Du den Leserinnen und Lesern des Mitteilungsblattes abschließend noch etwas auf den Weg mitgeben?
Ja. Es gibt einen Vers im Buch Kohelet (7,18), der mich begleitet:
Es ist Kohelet 718:
טוֹב אֲשֶׁר תֶּאֱחֹז בָּזֶה וְגַם מִזֶּה אַל תַּנַּח אֶת יָדֶךָ כִּי יְרֵא אֱלֹהִים יֵצֵא אֶת כֻּלָּם.
„Es ist gut, wenn Du an dem einen festhältst, aber auch das andere nicht loslässt. Wer Gott fürchtet, wird sich in jedem Fall richtig verhalten.“
Für mich heißt das: Wir müssen viele Rollen gleichzeitig im Blick behalten. Uns nicht auf eine festlegen, sondern beweglich bleiben – zwischen jüdischer Identität, moderner Welt und dem, was dazwischen liegt.
Das Interview führte Lea Wyrwal.
Quelle: ARK-Mitteilungsblatt zu Rosch Haschana 5786
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