Vilnius
Eine Delegation der Allgemeinen Rabbinerkonferenz traf sich mit Repräsentanten des jüdischen Lebens in der Hauptstadt LitauensEine Delegation der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK) hat sich in der Zeit vom 9. bis 11. Juni in Vilnius mit Repräsentant/innen des jüdischen Lebens sowie der Zivilgesellschaft Litauens getroffen.
Es ist nicht das erste Mal, dass die ARK eine solche Begegnungsreise gemacht hat, um die Beziehungen zum liberal-jüdischen Lebens außerhalb von Deutschland zu vertiefen. In der Vergangenheit fanden vergleichbare Reisen statt nach Israel, Polen und Ungarn. In diesem Jahr fuhr die ARK nach Vilnius, um ein Zeichen der Solidarität zu setzen. Die Idee ging von den ARK-Militärrabbinern aus und steht in Verbindung mit der Stationierung der Bundeswehr-Brigade in Litauen. Große Motivation boten überdies die reiche jüdische Geschichte der Stadt und das Interesse für die heutige Realität des dortigen jüdischen Lebens.
An erster Stelle auf dem Programm stand ein Besuch beim jüdischen Parlamentsabgeordenten Emanuelis Zingeris. Er hatte 1990 das Gesetz für die Unabhängigkeit Litauens mit unterzeichnet und ist heute Mitglied im Europarat (zuständig für Menschenrechtsfragen). Derzeit kämpft er für die Anerkennung der jüdischen Ghetto-Kämpfer als litauische Nationalhelden. Die weiteren Begegnungen reichten von Treffen mit der Vorsitzenden der jüdischen Gemeinden Litauens, dem Leiter der NGO „Maceva“ zum Erhalt der jüdischen Friedhöfe, dem Direktor des jüdischen Gymnasiums, der Leiterin der jüdischen Bibliothek, bis hin zu einem Militärvertreter der deutschen Brigade in Litauen und einem Besuch des gerade erst von der Friedrich Naumann Stiftung eröffneten Freedom Centers im Zentrum der Altstadt von Vilnius.
Die überaus intensiven Begegnungen und Gespräche machten deutlich, wie sehr das heutige jüdische Leben mit dem Eintreten für die Demokratie in Europa verbunden ist. Vielfach wurde Dankbarkeit für die Präsenz der deutschen Brigade zum Ausdruck gebracht. Die Bedrohung durch Russland wird real auf ganz Europa bezogen.
In Bezug auf das jüdische Leben wechselten sich Hoffnungsmomente unmittelbar mit deprimierenden Realitätsbeschreibungen ab. Von einstmals bis zu 250.000 Juden auf dem heutigen Staatsgebiet Litauens wurden 95 Prozent in der Schoa ermordet. Heute beträgt die jüdische Bevölkerung nur noch rund 6.000. Noch immer ist das Ausmaß der litauischen Kollaboration bei den Massenerschießungen nicht aufgearbeitet. Dennoch weist das jüdische Leben in Vilnius eine beachtliche Vielfalt auf. Die Delegation genoss ein Abendessen im vegan-israelische Café Zvi Parkas, einen Vortragsabend von ARK-Rabbiner Dr. Daniel Katz in der jüdischen Bibliothek, Museumsbesuche etwa zu den Werken von Samuel Bak, die Besichtigung der renovierten Choral-Synagoge und immer wieder das Gedenken an den „Gaon von Wilna“, einem der größten Rabbiner in der europäisch-jüdischen Geschichte.
Die Treffen mit Juden in Vilnius wurden zu Begegnungen jenseits der Klischees. Einen großen Raum nahm die erstaunliche Präsenz des Jiddischen ein. Zum unvergesslichen Höhepunkt wurde der Besuch des von Dovid Katz betriebenem „Defending History“. Der ehemalige Oxford-Professor hat 3.000 Interviews mit Schoa-Überlebenden in Jiddisch geführt und in Vilnius einen Ort geschaffen, der einen gigantischen Schatz an jiddischsprachigen Publikationen beherbergt.
Die jüdische Gemeinschaft in Vilnius steht heute an einer neuen Schwelle. Auf die euphorischen Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte die realistische Ernüchterung. Inzwischen ringt eine jüngere Generation mit innerjüdischen Konflikten sowie der Frage, welche Art von konkreter Verantwortung es für den Erhalt des Judentums in der Zukunft bedarf. Hierbei erwiesen sich die Gespräche mit der ARK-Delegation als beidseitiges Anliegen. Gesprochen wurde über Forschungskooperationen mit der Jüdischen Hochschule in Heidelberg, über die Ermöglichung eines liberalen Rabbiners für Litauen, über Anregungen, wie sich auch in Litauen ein liberales Judentum halten könnte.
Etwas vom jüdischen Wilna, des einstigen „Jerusalem des Nordens“, lebt auch im heutigen Vilnius fort. Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine und gegen die europäischen Demokratien insgesamt zeichnet sich eine neue Rolle Litauens ab. Die darin enthaltene Bedeutung des jüdischen Lebens sollte nicht unterschätzt werden. Das gehörte zu den neuen Erkenntnissen der ARK-Rabbiner/innen bei ihrem Aufenthalt in Vilnius.
Rabbinerin Prof. Dr. Elisa Klapheck, Vorsitzende der Allgemeinen Rabbinerkonferenz
12.06.2025
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