Schwangerschaftsabbruch
Stellungnahme der Liberalen RabbinervereinigungAus liberal-jüdischer Perspektive betrachten wir die Frage des Schwangerschaftsabbruchs als eine äußerst komplexe und persönliche Angelegenheit, die sowohl ethische als auch religiöse Aspekte berührt. Der liberale jüdische Ansatz betont dabei die moralische Verantwortung der Schwangeren und die Notwendigkeit, ihre Entscheidungsfreiheit zu respektieren. Vor diesem Hintergrund unterstützen wir die Empfehlungen im Bericht der Sachverständigenkommission zur Reform der gesetzlichen Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland.
Jüdische Perspektive auf Schwangerschaftsabbruch
Im Judentum wird das Leben hochgeschätzt, doch es gibt keine absolute Priorisierung des ungeborenen Lebens gegenüber dem Leben und Wohlergehen der schwangeren Person. In der Halacha (jüdischen religiösen Rechtslehre) gilt der Fötus bis zur Geburt nicht als eigenständige Person. Das bedeutet, dass das Leben und die Gesundheit der Schwangeren Vorrang haben. Schwangerschaftsabbrüche können daher aus jüdischer Sicht gerechtfertigt sein, insbesondere wenn die physische oder psychische Gesundheit der Schwangeren gefährdet ist.
Liberale Position: Selbstbestimmung und Verantwortung
Die liberale jüdische Tradition betont die Autonomie des Individuums und die moralische Verantwortung, Entscheidungen in Übereinstimmung mit den eigenen Überzeugungen und Lebensumständen zu treffen. Ein Schwangerschaftsabbruch ist niemals eine leichte Entscheidung, aber es ist essenziell, dass diese Entscheidung in Freiheit und ohne unnötige gesetzliche Hürden getroffen werden kann. Der Zugang zu medizinischer Versorgung und Beratung muss gewährleistet sein, ohne dass Betroffene stigmatisiert oder kriminalisiert werden.
Unterstützung der Empfehlungen der Sachverständigenkommission
Die Empfehlungen der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin vom 15.4.2024 für eine Reform der gesetzlichen Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs in Deutschland markieren einen wichtigen Schritt hin zu einer liberaleren und gerechteren Regelung. Insbesondere begrüßen wir:
1. Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs: Die bisherige Strafandrohung (§ 218 StGB) wirkt stigmatisierend und setzt Frauen sowie Ärztinnen und Ärzte unnötigem Druck aus. Eine Entkriminalisierung stärkt die Selbstbestimmung und schafft ein Klima des Respekts.
2. Verbesserung des Zugangs zu Beratungs- und Versorgungsangeboten: Eine Beratung sollte zwar verpflichtend bleiben, muss aber unverzüglich, ergebnisoffen sowie unter Wahrung der Würde der Schwangeren und ohne Bevormundung gewährleistet werden.
3. Förderung einer flächendeckenden medizinischen Versorgung: Es ist unerlässlich, dass Schwangerschaftsabbrüche als Teil der regulären medizinischen Versorgung anerkannt und überall zugänglich sind.
Ethik und Gesellschaft: Eine pluralistische Haltung fördern
Die Reform des Schwangerschaftsabbruchsrechts ist nicht nur eine rechtliche, sondern auch eine gesellschaftliche Herausforderung. In einer pluralistischen Gesellschaft muss Raum für unterschiedliche religiöse und weltanschauliche Perspektiven geschaffen werden. Das liberale Judentum sieht in der Reform eine Möglichkeit, Verantwortung und Mitgefühl in den Vordergrund zu stellen und die Würde jedes Menschen zu wahren.
Wir fordern die Politik auf, die Empfehlungen der Sachverständigenkommission umzusetzen und den Zugang zu sicheren, legalen und ethisch verantwortungsvollen Schwangerschaftsabbrüchen zu gewährleisten. Gleichzeitig appellieren wir an die Gesellschaft, mit Empathie und Respekt mit diesem sensiblen Thema umzugehen.
Liberale Rabbinervereinigung, 9.12.2024 - 8. Kisslew 5785
Die Liberale Rabbinervereinigung ist ein Zusammenschluss von deutschsprachigen Rabbinern und Rabbinerinnen, die dem progressiven (Reform-)Judentum angehören. Ein Teil von ihnen ist Mitglied der Allgmeinen Rabbinerkonferenz in Deutschland.
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