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Schmini Atzeret und Simchat Torah

von Rabbinerin Ulrike Offenberg

Sukkot findet seinen Abschluss mit einem Fest, das uns merkwürdig farblos erscheint. Schmini Atzeret gehört zu den bereits in der Torah angeordneten Feiertagen und doch ist nicht ganz klar, was sein Inhalt ist. In Lev 23, 36 heißt es: Sieben Tage sollt ihr Feueropfer dem Ewigen darbringen. Am achten Tag sei euch eine heilige Zusammenberufung und bringt ein Feueropfer dar dem Ewigen: Ein Schlussfest ist es, keinerlei Arbeitsverrichtung sollt ihr tun. Das Schlussfest und der achte Tag verweisen auf Sukkot, und so ist es Brauch, noch Kiddusch in der Laubhütte zu machen, obwohl die Brachah über das Sitzen in der Sukkah nicht mehr gesagt wird.
Den meisten fällt beim Stichwort „Schmini Atzeret“ noch ein, dass Jiskor gesagt wird. Und in Israel und in Reformsynagogen, wo kein diasporatypischer Zweiter Feiertag begangen wird, stehen die Gottesdienste ganz im Zeichen von Simchat Torah. Und doch hat dieser ziemlich vernachlässigte Feiertag das Potential, ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit zu rücken.

Gebet für den Regen

Schmini Atzeret markiert den Wechsel der Jahreszeiten im Nahen Osten: Die Trockenzeit des Sommers wird nun abgelöst durch eine hoffentlich regenreiche Winterzeit, damit die Gewässer, der Boden und Zisternen sich mit dem lebenspendenden Nass füllen können. Sollte das nicht geschehen, drohen im nächsten Jahr Dürre und Hungersnot. Das zentrale Ereignis von Schmini Atzeret ist darum das Gebet um Regen, für das der Chasan/die Kantorin im weißen Kittel vor den Aron HaKodesch tritt und in einem mehrstrophigen Pijut die Verdienste der Väter Abraham, Jizchak, Jakov, Moscheh und Aharon sowie der Zwölf Stämme aufruft, um die Bitte der Gemeinde um Wasser zu verstärken.

In liberalen Gemeinden sind in den letzten Jahrzehnten zusätzlich Strophen gedichtet worden, die Sarah, Rivkah, Rachel, Lea, Miriam, Deborah und Jael und ihren Bezug zu Wasser in Erinnerung rufen. Die Verse schließen mit dem eindrücklichen Flehen ab: „Du, Ewiger, bist unser Gott. Du lässt die Winde wehen und den Regen fallen. Zum Segen, und nicht zum Fluch. Amen. Zum Leben, und nicht zum Tod. Amen. Zum Sattwerden, und nicht zu Mangel und Not. Amen.“ Schmini Atzeret ist der Torwächter zu einer fruchtbaren, segenbringenden Jahreszeit.

Der von nun in der Amidah erwähnte Zusatz „der den Wind wehen und den Regen fallen lässt“ wurde hierzulande noch bis vor kurzem lediglich als Ausdruck der Verbundenheit mit dem Land Israel angesehen. Für hiesige Breiten schien das nicht relevant, denn es regnete ja das ganze Jahr hindurch. Nun aber machen uns die ausbleibenden Regenfälle im Sommer, die austrocknenden Flüsse und Seen, die dürren Fel der und Gärten, die zunehmenden Waldbrände deutlich, wie existentiell wir auf Niederschläge angewiesen sind. Der Klimawandel wirkt sich massiv auch bei uns aus. Auf unerwartete Weise bekommt Schmini Atzeret neue Aktualität als ein Feiertag des ökologischen Bewusstseins.

Wie ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist, wollen wir uns satt trinken an Wasserströmen. Wir wollen trinken von den Worten der Torah, die wie das Wasser ist. Auf, kommt alle, die ihr Durst habt, kommt zum Wasser. Der 22./23. Tischrej vereinigt in sich viele Gegensätze: Während Schmini Atzeret Aspekte der Na tur in den Vordergrund rückt, feiert Simchat Torah die Kultur, nämlich Abschluss und Neubeginn des jährlichen Lesezyklus der Torah. Schmini Atzeret gehört zu den ältesten, bereits in der Torah verankerten Feiertagen, Simchat Torah hingegen ist einer der jüngsten. Das Fest geht auf das sich nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes nach Babylonien verlagernde Zentrum des jüdischen Lebens zurück. Dort wurde etabliert, dass die Fünf Bücher Mose an den Schabbatot eines Jahres durchgelesen werden, während im Land Israel dieser Lesezyklus erst nach dreieinhalb Jahren abgeschlossen wurde. Noch für das Mittelalter ist die parallele Existenz beider Praktiken bezeugt: Der Reiseschriftsteller Benjamin Tudela (12. Jahrhun dert) beschreibt, dass in Kairo die meisten Synagogen der babylonischen Praxis folgten, aber es auch welche gab, die nach dem Ritus des Landes Israel verfuhren. Jedoch das Fest von Simchat Torah feierten sie jedes Jahr gemeinsam.

Die Art, wie wir mehr als tausend Jahre später diesen Feiertag begehen, illustriert die zentrale Bedeutung der Torah für jüdisches Leben und jüdische Identität. Alle Torahrollen werden aus dem Aron HaKodesch herausgenommen und festlich durch die ganze Synagoge getragen. Anschließend werden möglichst alle Gemeindemitglieder zur Lesung aufgerufen. Die Kinder sind schon lange mit einem eigenen Aufruf dabei, und mittlerweile ist es selbstverständlich geworden, auch die Frauen aufzurufen. Die Torah gehört allen, Juden und Jüdinnen.

Aus Mitteilungsblatt der ARK, Nr. 11, Rosch Haschana 2022/5783


Michal Wosner: Tränen an Simchat Torah

„Rabbiner Ovadiah aus Bartenura (1445–1515) beschreibt den Brauch jüdischer Frauen in Sizilien, am Vorabend von Jom Kippur die Synagoge zu betreten und die Torahrollen zu küssen. Er schreibt: ‚Familie für Familie kommen die Frauen, um sich vor den Torahrollen zu verbeugen und sie zu küssen. Zur einen Tür kamen sie herein und durch die gegenüber liegende Tür gingen sie hinaus, die ganze Nacht über kommt eine nach der anderen’. Als ich diese Worte las, wurde mir mit Schrecken bewusst, dass es mir noch niemals vergönnt war, mich vor den Torahrollen zu verbeugen, und die wenigen Male, da ich sie küsste, kann ich an einer Hand abzählen. Im Laufe meines Lebens war ich unzählige Male in der Synagoge, und unzählige Male schaute ich von fern, aber ich sah nie eine Torahrolle offen vor mir, niemals las ich die Worte, die mein Leben bestimmen; niemals rollte ich sie ein oder öffnete sie; niemals hob ich sie hoch und fühlte ihr Gewicht, nie hörte ich wirklich nah an meinen Ohren den zarten Klang der Glöckchen an ihrer Krone.“ (Aus: Dalia Marx, Durch das Jüdische Jahr, S. 46)

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