hauptmotiv

Aus dem Wilden kam Süßes

Die Bedeutung der Bienen für Rosch Haschana

von Rabbiner Tom Kučera

Es ist das berühmteste Symbol von Rosch HaSchana, das uns unabhängig vom Alter begleitet, vom Kindergarten an, und besonders dieses Jahr unsere Hoffnungen zum Ausdruck bringt. Gemeint ist der Honig, verbunden mit dem Wunsch nach einem süßen Jahr, metuka, mit der Beracha, die in den heutigen Zeiten wie ein flehentlicher Ausruf wirkt: „schetechadesch alejnu schana towa umetuka, erneuere für uns ein gutes Jahr, in dem wir etwas Süßes, etwas Angenehmes finden können.“ Was wäre unsere Liste der Adjektive, die für unser Leben im neuen Jahr für „süß“ stehen? Die Tradition mit Honig kommt weder von der Tora noch vom Talmud, auch wenn in den Sprüchen, Mischlej, im Tanach geschrieben steht: „Iss Honig (dewasch), denn er ist gut, Honigseim (nofet), denn er ist süß für deinen Gaumen.“ (Spr 24,13). Die Honig-Tradition zu Rosch HaSchana geht erst von den babylonischen Geonim im siebten Jahrhundert n.d. Z. aus, deren entscheidender Einfluss auf die weltweite Verbreitung des rabbinischen Judentums, inklusive Europa, oft nicht genug erkannt und gewürdigt wird.

Das hebräische Wort für Honig kennen wir besonders gut aus dem Lied Erez sawat chalaw udewasch, mit dem wir das Land besingen, in dem Milch und Honig fließen. Aber wie Raschi (R. Salomon ben Isaak, 1040–1105) erklärt, handelt es sich dabei um Mandelmilch und Dattelsirup. In der biblischen Zeit wurde der Honig meistens aus Datteln hergestellt; heute ist diese Dattelpaste in Israel unter dem Namen „Silon“ beliebt. Vor einigen Jahren hat das Technion in Haifa einen synthetischen Honig erfunden. Das Bakterium Bacillus subtilis wird im Labor so umprogrammiert, dass es einen goldfarbenen Sirup herstellt, der nach Honig schmecken soll. Das Produkt heißt „BeeFree“.

Aber sprechen wir lieber vom richtigen Honig, der halachisch hervorragt, weil er das einzig bekannte koschere Produkt eines nicht koscheren Tieres ist. Warum? Die beste Antwort: Weil es so ist. Die bessere Antwort: Im Gegensatz zur (nicht koscheren) Kamelmilch – Kamele sind nicht koscher –, wird der Honig einer (nicht koscheren) Biene in den besonderen Säckchen gespeichert, die nicht zum Bienenkörper gehören. Der Honig stammt vom Blütennektar, der von der Biene bloß umgewandelt wird und in den Waben reift. Diese halachische Spannung betont die beachtenswerte Biochemie vom Pollen bis zum Produkt.

Für ein halbes Kilo Honig fliegen Bienen circa dreimal um die Welt. Für zwanzig Kilo Honig (das entspricht einer Sommer-Saison) hat also eine Million Sammelflüge stattgefunden. Was für eine Motivation, wenn man über die Auswirkung des gesamten Gemeindelebens auf die einzelnen Mitglieder nachdenkt! Aber auf die Leistung soll es nach wie vor ankommen. Die liegt für eine fliegende Biene bei 500 W/kg, im Vergleich zu 20 W/kg für eine olympische Rudermanschaft, die also 25 Mal weniger leistungsfähig als eine Biene ist. „Fleißig wie eine Biene“ ist darum eine treffende Redewendung. Wenn Sie das Wort Biene aussprechen und nach meiner Assoziation fragen, sage ich gleich: die Biene Maja. Und Karel Gott, seligen Andenkens. Und sein Lied über die Biene Maja.

Weltweit gibt es über 20.000 Bienenarten, 600 davon sind hierzulande heimisch, 50 davon gefährdet oder vom Austerben bedroht. Pro Jahr gehen in Deutschland 10 % der Bienenvölker verloren, in Amerika sind es 30 %. Wieviele all dieser Bienenarten produzieren Honig? Eine einzige Bienenart: die Honigbiene, Apis melifera. Als einzige durch die Evolution auserwählt, Honig zu produzieren, lebt sie in Schwärmen, was nicht selbstverständlich ist: Die meisten Bienen sind Einsiedler, die sich nur zur Paarung treffen; ansonst leben sie allein. Sie sind praktisch alle Arbeiterinnen und alle Töchter einer einzigen Königin. Die Männchen, genannt Drohnen, machen nur 5 % des Schwarmes aus und gehören zu dessen faulsten Bewohnern.

Der Mensch gilt als ein Mitschöpfer, wie es in unserer Tradition oft formuliert wird. Wir finden viele Beispiele dagegen, aber in Bezug auf die Bienen bestätigt sich diese Aussage. In den deutschen Wäldern leben ungefähr 80.000 Völker von Honigbienen, aber eine Million Bienenvölker wird von den Imkern gehalten (nur 1 % sind Berufsimker, die meisten betreiben die Bienenhaltung in ihrer Freizeit). Auf der anderen Seite muss man schon zugeben, dass wir mit jedem Glas Honig die Bienen austricksen. Denn sie produzieren Honig für ihren Eigenbedarf: bei den Wildbienen, damit sie den Winter überhaupt überleben, was nicht immer der Fall ist (in Ithaca im Staat New York sterben 76 % der Bienenvölker während des ersten Winters ab).

Honig ist Energie für ihre Muskulatur, mit deren Schwingungen sie die innere Temperatur des Schwarmes auf plus 35º C halten, unabhängig davon, ob draußen minus 30 C herrscht. Nach einem Sommer bildet ein Bienenvolk bis zu 20 Kilo Honig, gespeichert in 18 Litern. Der Imker erhöht dieses zu bildende Waben-Volumen um einige Male, und die fleißigen Bienen arbeiten unermüdlich, um es zu füllen. Dies kann bis zu 100 kg pro Sommer betragen, was fünf Mal mehr als den Selbstbedarf darstellt. Auch wenn es wie eine Trickserei erscheint, macht es der Biene nichts aus und demütig erfüllt sie ihre Lebensaufgabe.

Leider ist die einzige Stelle in der Tora, die die Bienen erwähnt (Dt 1,44), negativ beladen: deworim sind diejenigen, die einen wie Feinde verfolgen. Ich möchte vorschlagen, dass die Tora damit die Wespen meint. Es gibt zwar das Wort zira für Wespe, aber in der Tora kann es übersetzt werden mit Hornisse: die helfen soll, die anderen zu vertreiben (Nm 7,20). Hiermit versuche ich, das im Tanach eher negativ beladene Wort deworim zu retten, weil es mir leid tut, dass auch im Hallel (im Psalm 118,11), den wir zu den Chagim singen, deworim, im Iwrit die Bienen, mit den Feinden gleichzusetzen sind, die den Autor des Psalmes einkreisen. Das war König David, der womöglich zu viel Zeit in seinem Palast verbrachte. Er hätte mehr Ausflüge in die Natur machen sollen, um die erstaunlichen Geschöpfe, die richtigen Bienen, zu beobachten. Diese haben viele Feinde und müssen gegen deren Brutalität eigene Schutzmechanismen entwickeln. Zum Beispiel stürzen sie sich zu Dutzenden auf eine Hornisse, pressen sich an ihren Körper und bringen sie mit purer Körperwärme um. Auch dazu ist die Honigenergie gut.

Gegen andere Feinde wie Wespenbussarde, Spitzhörnchen und Honigbären ist der Schutz nicht leicht. Eine einzige Art Honigbienen gibt es, wir Menschen aber genießen unzählige Sorten Honig. Mein Favorit ist Thymianhonig, meistens aus Kreta. Manuka-Honig hingegen, meistens aus Neuseeland und aus einer Myrte-Art, wird kontrovers diskutiert: Der Inhaltsstoff Methylglyoxal, ein kleines und feines Molekül der reduzierten Brenztraubensäure, wirkt zwar antibakteriell, aber seine Konzentration ist nach der TU Dresden in einigen Arten Manuka-Honig „möglicherweise nicht mehr unbedenklich“. Hier haben wir ein weiteres Beispiel der Meinungsunterschiede in der Wissenschaft, diesmal nicht aus der Virologie. Auch die Honigsüße kann fraglich werden, ist es meistens aber nicht.

Darum wenden wir uns jeden Schabbat-Abend an den Jedid nefesch, den Freund unseres Daseins, gleich in der ersten Strophe mit den Worten: jeeraw lo jedidutecha, deine Zuneigung wird angenehm, süß sein, mi, mehr als, nofet zuf, ein Honigseim, d. h. nach dem Lexikon: ein ungeläuterter Honig, wie er aus den Waben abfließt und somit das Symbol primärer Süße darstellt. Die Geburt von Schimschon wird in der Haftarat Nasso (Richter 14) geschildert. Eine seiner Lebensgeschichten im Tanach ist gerade mit Honig verbunden. Mit der Kraft seiner Hand tötet Schimschon einen Löwen, dessen Knochen die Waffe im Kampf gegen die Philischtim wird. Als er später zum Löwenkadaver kommt, findet er darin einen Bienenschwarm und damit eine Honigwabe, die er mit Gusto genießt. Dieses ungewöhnliche Ereignis formuliert Schimschon als ein Rätsel, das natürlich von den anderen nicht erraten wird und ihm damit in seinem Kampf hilft. Eine besondere literarische Darstellung dieser Tanach-Geschichte finden wir im Roman „Richter und Narr“ (1928) von Vladimir Jabotinsky, der als Begründer des revisionistischen Zionismus kontrovers diskutiert wird. David Ben-Gurion fand keine schmeichelnden Worte für ihn, was aber seine literarischen Qualitäten nicht schmälert. Das Rätsel Schimschons ging als ein Sprichwort ins Iwrit über: meas jaza matok, aus dem Wilden kam Süßes.

Wieviel Wildes haben wir letztes Jahr erfahren? Wieviel Wildes werden wir noch erfahren? Das Sprichwort möchte uns überzeugen, dass auch vom Bösen etwas Gutes aufblühen kann. Im Wörterbuch der Idiome steht für diesen hebräischen Spruch die englische Übersetzung: a blessing in disguise. Dies mag sich merkwürdig anhören, aber haben wir eine bessere Möglichkeit? Die Beracha, die wir für Honig auf dem Stück Apfel sprechen, lautet: schetechadesch alejnu schana towa umetuka, lass bitte ein gutes Jahr neu entstehen, damit wir darin auch etwas Angenehmes für uns finden können.

Ken jehi razon.

Aus dem Mitteilungsblatt der ARK, Nr. 8, Rosch Haschana 5782.



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