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Reden statt zwitschern

Verführt der Kurznachrichtendienst zu Hass und Hetze? Wie wir Nutzer mit Twitter & Co. umgehen sollten

von Rabbiner Boris Ronis

Ihr seid alle Sklaven eurer Smartphones!», ertönte die Stimme des israelischen Ministerpräsidenten. Es war vor ein paar Jahren, als Benjamin Netanjahu vor einer Pressekonferenz alle Journalisten im Saal maßregelte. Ihm war aufgefallen, dass er der Einzige im Raum war, der den Blick nicht auf sein Smartphone heftete.

Das Phänomen ist nicht selten – und schon gar nicht neu: Die tägliche Nutzungsdauer nimmt zu, einige können und wollen das Handy kaum noch aus der Hand legen. Manche leben mehr in der digitalen als in der realen Welt. Heimische Computer, Smartphones und andere mobile Geräte ermöglichen den Aufenthalt im Internet rund um die Uhr – man ist vernetzt, genießt die schiere Endlosigkeit des Informationsangebots. Live kann man mitverfolgen, wo was wann auf der Welt passiert – ganz aktuell und ohne jegliche zeitliche Verzögerung.

INFORMATIONSFLUT

Wir sind übersättigt mit Neuigkeiten aller Art und ertrinken beinahe in der Informationsflut. Das Dilemma verschärft sich, weil wir merken, dass wir nicht genügend Zeit haben, alles aufzunehmen und die einzelnen Meldungen richtig zu bewerten: Was ist wichtig, woher bekomme ich authentische Informationen?

Und wir fühlen uns nicht nur genötigt, uns mit allen Meldungen und Nachrichten zu beschäftigen, sondern auch sofort zu reagieren – besonders Menschen, die etwas sagen wollen, die sich profilieren müssen: Politiker, Prominente, Journalisten, Selbstdarsteller. Getreu dem Motto: Ich muss zu allem eine Meinung haben, wenn ich als Player in der modernen vernetzten Welt mitreden will.

Wir können uns der digitalen Moderne nicht entziehen.

Meinungen und Entscheidungen bilden sich in Sekundenbruchteilen. Zum Nachdenken fehlt die Zeit. Auf Aktion folgt sofort Reaktion. Wir antworten auf das Neue, ohne es verdaut, beurteilt und eingeordnet zu haben. Die Folge kann eine Fehlinterpretation oder falsche Formulierung sein, auf die unweigerlich Spott und Häme folgen.

ROBERT HABECK

Nicht zuletzt zeigt uns der Fall des Grünen-Politikers Robert Habeck, wie angespannt wir uns durch das weltweite Netz bewegen. Nach erneutem Ärger um einen Wahlkampf-Tweet und dem Diebstahl privater Daten hat er seine Konten bei sozialen Medien deaktiviert und damit viel Aufmerksamkeit erregt. Er räumte eigene Fehler ein, meinte aber auch, Twitter sei ein aggressives Medium, in keinem anderen gebe es so viel Hass, Böswilligkeit und Hetze. Der Kurznachrichtendienst färbe ab, verführe zu einer Schnelligkeit, die es schwermache, dem Nachdenken Raum zu lassen.

Dabei sollte eines klar sein: Niemand kann, ohne vernünftig über eine Sache reflektiert zu haben, egal zu welchem Thema, umgehend kompetente Antworten geben. Das sorgfältige Sammeln von Fakten und ihre Interpretation ist für jeden von uns unumgänglich – besonders, wenn es um heikle Themen geht, die einer ethisch-moralischen Bewertung bedürfen.

FAUXPAS

Sich dafür Zeit zu nehmen und dann aus der Reflexion und dem persönlichen Wissens- und Erfahrungsschatz heraus zu urteilen, würde so manchen Fauxpas in den sozialen Medien verhindern. Leider nehmen sich aber viele diese Zeit nicht, sondern versuchen, mit einem Schnellschuss ins Blaue richtig zu liegen. Dass so etwas nach hinten losgehen kann, ist nicht verwunderlich.

Es ist die Dosis, die das Gift ausmacht.

Alles, was der Mensch erschaffen hat, hat sein Gutes und sein Schlechtes. Dazu gehören auch die sozialen Medien. Sie sind eine Möglichkeit, sich zu informieren oder mit Menschen in Kontakt zu bleiben, die man nicht täglich um sich hat. Für Politiker wie Robert Habeck können sie die Chance bieten, Menschen zu erreichen, um meinungsbildende Arbeit zu verrichten.

Durch unreflektiertes Verhalten können sie aber auch das Gegenteil bewirken. Und das kann jeden Einzelnen von uns betreffen, auch im Freundes- oder Familienkreis, soweit er sich im Digitalen abspielt. Vielleicht werden die sozialen Medien für uns alle zur Gefahr. Inzwischen beweisen erste Studien, wie schädlich die übermäßige Nutzung sein kann, wie sie vor allem junge Nutzer in Vereinsamung und Depression treiben kann.

SUCHT

Internetpionier Jaron Lanier hat kürzlich in dieser Zeitung vor der starken Sucht und Abhängigkeit gewarnt. Und er hat erläutert, wie die Empörung zum Geschäftsmodell von Facebook & Co. gehört: «Je wütender die Leute werden, desto engagierter werden sie, und je mehr Aufmerksamkeit sie dem Geschehen auf der Plattform widmen, desto mehr Geld verdient man.»

Lanier kommt zu dem Schluss: «Man gewinnt persönliches Glück hinzu, wenn man die sozialen Medien verlässt.» Selbst Medienmanager und Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner meidet die sozialen Medien. In einem «Welt»-Interview sagte er Anfang dieser Woche, warum: «Das kostet zu viel Zeit, produziert zu viel negative Energie und zu wenig Erkenntnis.»

«Man gewinnt persönliches Glück hinzu, wenn man die sozialen Medien verlässt», sagt Jaron Lanier.

Ein befreundeter Arzt gab mir folgenden Ratschlag mit auf den Weg: Es ist die Dosis, die das Gift ausmacht. Wir können uns der digitalen Moderne nicht entziehen, sollten aber im Umgang mit ihr die nötige Sorgfalt bewahren, die wir auch im persönlichen Gespräch und in der Begegnung haben. Und wir sollten diesen Austausch wieder häufiger führen, anstatt nur über Twitter, Facebook oder WhatsApp zu kommunizieren. Also: Reden statt zwitschern.
Vielleicht bedarf es keiner abrupten Abstinenz von sozialen Medien, sondern vielmehr eines reflektierten und bedachten Umgangs mit ihnen. Das gilt übrigens für alle Bereiche des Lebens.

Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 19. Janaur 2019.

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