Hadassah - Ischtar - Esther
Wie das Fremde in der Megillath Esther jüdisch wirdVon Rabbinerin Elisa Klapheck
Er (Mordechai) war der Pflegevater der Hadassah, das ist Esther, die seines Oheims Tochter war... (Megillath Esther 2:7)
Der Name, den Esthers Eltern ihrer Tochter gegeben hatten, lautete Hadassah, auf Deutsch: Myrte – nicht Esther. Ihr Cousin und späterer Pflegevater Mordechai wird das Waisenkind vermutlich noch als „Hadassah“ in sein Haus aufgenommen haben. Wie und warum aus Hadassah „Esther“ wurde, erzählt die Geschichte nicht. Wir können es nur deuten, wie es auch schon die Rabbiner im Talmud getan haben.
Hadassahs Namensveränderung drückt jedenfalls aus, daß sich ihre Beziehung zu ihrer Herkunft nach dem Tod ihrer Eltern verändert haben muß. Als Mordechai seine Cousine an den persischen Hof brachte, hieß sie bereits Esther. Einiges spricht dafür, daß es Mordechai war, der den Anstoß für Hadassahs neuen Namen gegeben hatte. Denn Mordechai selbst scheint ein „assimilierter“ Jude gewesen zu sein – einerseits bewußt für seine Herkunft und die ewige Gefährdung seines Volkes, andrerseits doch einer der vielen Juden, die nicht daran glauben konnten, daß ihr Überleben durch eine frei gewählte Selbstisolation von den anderen Völkern möglich sei. Mordechais Denken war realpolitisch. Er akzeptierte die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten Persiens und lebte dabei einen Kompromiß: Assimilation, um an der Macht teilhaben zu können, zugleich aber die Lage der Juden absichern sowie ihre besondere Geschichte auch im Exil weiterführen zu können. Mordechai ist vergleichbar mit Juden wie Walther Rathenau, Henry Kissinger oder Pierre Mendes-France, in deren Vornamen sich die Anpassung an ihre Umwelt widerspiegelt. Denn der Name „Mordechai“ klingt dem Namen des Schutzgottes Babylons, „Marduk“, sehr nahe - ein Name, den wohl ganze Generationen von Eltern, dem damaligen Zeitgeist folgend, ihren neugeborenen Jungen gegeben hatten – auch jüdische Eltern.
In der Bibel geschieht es oft, daß sich Namen wandeln – meist nach einer Begegnung mit Gott, die auf die Entstehung, den Erhalt, die Errettung des jüdischen Volkes hinweist. Aus Abram wurde „Abraham“, aus Sarai „Sarah“, aus Jakob „Israel“, aus Hoschea „Jehoschua“. Auch in der Esther-Geschichte geht es um die Errettung des jüdischen Volkes. Aber schon im Traktat „Megilla“ im Talmud zeigten sich die Rabbiner darüber irritiert, daß vor Esthers Namenswandlung keine Gottesbegegnung stattgefunden hatte, ja „Esther“ sogar eine Ableitung von „Astarte“, bzw. „Ischtar“ („Stern“) zu sein scheint – einer damals hochpopulären weiblichen Gottheit im mesopotamischen Kulturraum. Die Irritation gipfelte gar darin, daß in der Megillath Esther der Name Gottes kein einziges Mal erwähnt wird. Die Rabbiner suchten deshalb nach einem „Zeichen“, das dennoch auf Gott hinweisen möge. Sie meinten den Namen „Esther“ im Torahvers „hester astir panai“ – ich aber werde mein Antlitz verbergen“ (5. Buch Mose 31:18) wiederzufinden – der drohenden Ankündigung Gottes, sich selbst zu verbergen. Das ist die Welt, in der Gott nicht mehr vorkommt und Unheil über sie hereinbricht. (Der berühmte Rabbiner Emil Fackenheim, der versuchte, die Schoa theologisch zu deuten, baute seine Argumentation weitgehend auf dem Begriff „hester panim“ auf.)
Weil Gott in der Megillath Esther trotz allem nicht eindeutig erkennbar ist, gehörte sie lange zu den umstrittenen Schriften der biblischen Literatur. Über mehrere Jahrhunderte waren sich die Rabbiner uneins darüber, ob sie überhaupt in den Tenach gehöre. Sie galt als ebenso fragwürdig wie das „Hohelied Salomos“, das wegen seiner reichen Erotik vielen eben als nicht gerade heilig erschien, das Buch „Koheleth“, das wegen seiner pessimistischen, fast agnostischen Stimmung Zweifel an der Existenz Gottes erhebt, oder das Buch „Hiob“, in dem Gott durch seine Wette mit dem Satan beinahe seine Autorität als Ursprung von Gerechtigkeit einbüßt.
Die Ambivalenz währt bis heute – nicht zuletzt weil die Geschichte in einer regelrechten Blutorgie von Juden an den Anhängern Hammans endet. In einer 1923 im Benjamin Harz Verlag erschienenen jüdischen „Familienbibel“ (mit Illustrationen von Ephraim Moses Lilien) bedauerte sogar der Autor des Vorwortes, daß sich das Buch Esther zu manchen Zeiten in bestimmten „jüdischen Kreisen“ großer Beliebtheit erfreut hatte:
Hat doch ein Rabbiner des vierten nachchristlichen Jahrhunderts Esther über Psalmen und Propheten erhoben und der Thora, dem Gesetze, gleichgestellt. In der christlichen Kirche zeigte sich schon früh deutliche Abneigung gegen das Buch. Luther sprach seine Meinung mit großer Offenheit aus. Er sei dem Buche so feind, daß er wollte, es wäre gar nicht vorhanden. Der nachfolgenden lutherischen Orthodoxie war dieses Urteil sehr peinlich. Bis heute quälen sich noch einige Theologen, dem Buche einen religiösen Wert abzugewinnen, den es nun einmal nicht hat. In dem ganzen Estherbuch ist nicht ein einziger religiös oder sittlich wertvoller Gedanke. Der Name Gottes kommt darin überhaupt nicht vor, ein Umstand, der freilich von einem Apologeten als ein „heiliges Schweigen von Gott“ gedeutet ist – Esther steht in dem denkbar schroffsten Gegensatz zu Ruth und Jona. Aus diesen beiden Büchlein spricht ein duldsamer, weitherziger Geist, hier aber kommt nur engherziger Fanatismus zu Worte.
Diese Auffassung galt jedoch nicht für alle Zeiten. Im Mittelalter z.B. bildete Esther den Idealtyp der Herrscherin. Das damals geltende Prinzip „consors regni“, daß Königinnen und Kaiserinnen am Herrscheramt mitbeteiligte, hieß synonym auch „regni particeps Hester“, bzw. „consors regnis nostri Esther“. Daß die Esther-Geschichte eine besondere Dynamik birgt, die mit Gott zu tun hat – die Emanzipation einer schönen, zunächst jedoch passiven Frau zu einer politisch handelnden Königin - erkannten offensichtlich auch die Rabbiner und bewerteten dies sogar als einen elementaren Baustein für das Judentums. Es spricht für ihren geistigen Mut, die Megillath Esther sowie auch die anderen umstrittenen Bücher in den Tenach aufgenommen zu haben. Dahinter steht die Einsicht, daß die Menschen ihrem Gott nicht unbedingt nur durch das Einhalten der Torah-Gebote näherkommen. Mitunter wird die Beziehung des Ewigen zu den Menschen vielmehr erst in den Widersprüchen, welche die Bibel zum Teil unerträglich mehrdeutbar machen, real nachvollziehbar. Diese paradoxe Spannung ist im Judentum erwünscht, sonst würde es nicht zur Torah (Fünf Bücher Moses) parallel fünf Megilloth („Rollen) geben.
An jedem Schabbath lesen Juden einen Abschnitt aus der Torah, doch an besonderen Feier- und Trauertagen lesen sie die Megilloth: „Esther“ zu Purim, „Ruth“ zu Schavuoth, „Schir Ha’Schirim“ zum Schabbath an Pessach, „Koheleth“ zu Sukkot und „Echa“ zu Tischa b’Av. Alle fünf Megilloth enthalten untypische „fremde“ oder gar „abweichlerische“ Elemente. Oft spielt eine Frau die Hauptrolle. Zu den Fünf Bücher Moses, die sich hauptsächlich auf die Gesetze beziehen, bilden sie den weiblicheren Kontrapunkt. Doch wie alle biblischen Texte drehen auch sie sich um das Thema: Errettung – Erlösung – das Suchen und Finden Gottes. Im Buch „Ruth“ ist es eine Fremde aus dem Lande Moabit, die den jüdischen Gott annimmt, nach Kanaan zieht und dort Boas trifft. Aus der Verbindung der beiden geht nicht nur König David sondern eines Tages auch der Messias hervor. Im „Shir Ha’Shirim“ (Hohelied Salomos) geschieht die Erlösung von den begrenzenden Konventionen durch die erotische Liebe. In „Koheleth“ (Prediger) führt die Erlösung des Einzelnen über die langen, dunklen Irrwege des Zweifelns. In „Echa“ (Klagelieder) fordert der Prophet Jeremia seine Brüder und Schwestern auf, sich im babylonischen Exil einzurichten, kündigt dabei aber Wiederaufbau des Tempels an.
Die Megillath Esther treibt die paradoxe Spannung zwischen den Megilloth und der Torah jedoch auf die Spitze. Keine der anderen biblischen Geschichten geht so weit, die Errettung des jüdischen Volkes durch die geradezu extreme Einbeziehung „fremder“ Kulturelemente geschehen zu lassen - die Adaption der Eigenschaften Ischtars durch die Jüdin Esther. „Ischtar“ galt im Kulturraum Mesopotamiens als Bezeichnung für „Göttin“ schlechthin. Zuständig war diese Göttin für die Bereiche „Liebe“ und „Krieg“. In ihrer „Partnerschaft“ mit „Marduk“ wurde sie zu einer politischen Göttin, die Babylon zu Aufstieg und Herrschaft über andere Völker verhalf.
Die Megillath Esther beschreibt zunächst die extrem frauenfeindliche Stimmung, die im Reiche Achaschveroschs herrschte. Die Berater des Königs fürchteten, daß sich nach Vaschtis Weigerung, ihre Schönheit den Männern zu zeigen, nun alle Frauen im Reich gegen ihre Männer erheben könnten. Deshalb rieten sie dem König, Vaschti zu verstoßen. Einer der königlichen Berater war Hamman, ein Karrierist, den die Weigerung des Juden Mordechai, sich vor ihm zu verbeugen, tödlich gekränkt hatte. Vaschti – die Frau - und Mordechai – der Jude – hatten den von grenzenloser Großmannssucht gezeichnetem Protagonisten des Hofes ihre Grenzen aufgezeigt. In beiden Fällen antworteten die Gekränkten mit totaler Niederschlagung, bzw. Vernichtung.
Dann tritt Esther als mögliche Braut des Königs auf die Bühne. Ihr ursprünglicher Name „Hadassah“/ Myrte erinnert zunächst eher an die naturalistische und metaphernreiche Erotik des Hoheliedes. Tatsächlich ist es nur ihre Schönheit, die sie zunächst in den königlichen Harem bringt. Doch irgendwo in der Geschichte hatte sich Hadassah in Esther verwandelt, hatte sie die in Ischtar gerühmten Liebes- und Kampfeseigenschaften angenommen und vermochte dadurch in den innersten Bereich der politischen Macht zu gelangen. Ihr gelingt es nicht nur, den Untergang ihres Volkes abzuwenden, sie verschafft auch den Juden Persiens größtmöglichen politischen Einfluß. Am Ende der Geschichte, nach Hammans Fall, erklärt der König Mordechai zum höchsten Berater und verleiht Esther die Befugnis, eigene Dekrete zu verfassen.
Es hat viele wissenschaftliche Versuche gegeben, das Judentum als Chamäleon zu dechiffrieren, das keinen eigenen Ursprung sondern immer nur die Kultur der jeweiligen „Wirtsvölker“ angenommen und adaptiert habe. Das provozierendste Beispiel in dieser Hinsicht ist die Behauptung, daß der Monotheismus nicht ursprünglich jüdisch sondern ägyptisch gewesen und unter Pharao Echnaton eingeführt worden sei. Moses sei in Wahrheit ein ägyptischer Priester unter Echnaton gewesen („Moses“ heißt im pharaonischen Ägyptisch – ähnlich wie in Ramses oder Tutmosis – „Sohn“). Viele Juden streiten die „fremde“ Herkunft ihrer eigenen Quellen reflexhaft ab, aus Angst, daß damit die jüdischen Fundamente aufgehoben werden könnten. Dabei liegt die Größe der jüdischen Geistesgeschichte gerade auch darin, das Positive, das die Völker hervorgebracht haben, in die eigenen Traditionen einzubeziehen und nicht dem Vergessen anheimzugeben. Die Megilliath Esther nimmt einen Aspekt der babylonischen Gottesauffassungen ins Judentum mit auf. Mit der Kraft, die in der Verehrung der Ischtar entstehen konnte – dem in Hadassah judaisierten Geist der Ischtar – konnte großes Unheil verhindert werden. Daß sich dies schemenhaft mit dem Namen einer persisch-babylonischen Gottheit verbindet, macht die Geschichte jedoch weder heidnisch noch antijüdisch, sie liefert vielmehr einen weiteren der vielen Mosaiksteine des für die Menschen nie im Ganzen faßbaren Gottes. Das Gedenken geschieht freilich in einer jüdischen Version. In der Megillath Esther wurde die babylonische Ischtar „gekaschert“. Und während heute im ganzen Orient niemand mehr der einstigen Astarte/ Ischtar gedenkt, haben alle jüdische Frauen die Pflicht, an Purim die Megillath Esther zu hören.
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