„Begegnung braucht menschliche Beziehung“
Liberale Stimmen im jüdisch-christlichen Dialog: ein Rückblickvon Rabbiner Walter Homolka
Dieses Jahr haben wir etliche Anlässe, daran zu erinnern, dass Dialogfähigkeit eine Stärke unseres liberalen Judentums ist. Mein Mentor und Freund Ernst Ludwig Ehrlich (1921–2007), dessen Geburtstag sich am 27. März zum 100. Mal jährt, befand mit Blick auf die Zeit nach der Schoa: „Eine Brücke zu einander erschien kaum vorstellbar.“ Und doch wurde er selbst zu einem Brückenbauer, dazu inspiriert von der ersten International Conference of Christians and Jews, die Anfang August 1946 – vor 75 Jahren – in Oxford stattfand. Fotos zeigen ihn an der Seite seines Freundes Herbert A. Strauss, der wie er zu den vier letzten Studenten Leo Baecks an der von den Nationalsozialisten zur Lehranstalt degradierten Hochschule für die Wissenschaft des Judentums zählte, mit ihrem Lehrer Baeck, aber auch mit Gertrud Luckner, Propst Heinrich Grüber und Reinhold Niebuhr. Und vor 70 Jahren, Ende Februar 1951, fand die allererste Woche der Brüderlichkeit statt, veranstaltet in Bayern. Die Theologischen Betrachtungen über „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9) hielt der jüdische Erlanger Religionswissenschaftler Professor Hans Joachim Schoeps (1909–1980) in den Münchner Sophiensälen.
Ehrlich hat oft auf die 2.000jährige Entzweiungsgeschichte von Christen und Juden verwiesen. Ja, etliche Chancen der Begegnung wurden verpasst, doch in der Weimarer Republik gab es eine Reihe von Anstößen zum Gespräch, die zumeist von jüdischer Seite ausgingen. Leo Baeck, Juda Bergmann, Ismar Elbogen, Julius Guttmann und Michael Guttmann waren unter den jüdischen Gelehrten, die 1925/26 in einer ersten Vortragsreihe am Institutum Judaicum der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität einem protestantischen Auditorium ihr Verständnis von jüdischer Geschichte vermittelten. Baeck war auch wiederholt Gast in der 1920 von Hermann Graf Keyserling (1860–1946) gegründeten Darmstädter Schule der Weisheit, in der Fragen von Philosophie und Religion unabhängig von Universität und Kirche diskutiert wurden.
Von 1929 bis 1931 kam es im Rahmen einer Vereinbarung zwischen der liberal ausgerichteten Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums und der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Gießen sogar zu einem regelmäßigen Dozentenaustausch; Rabbiner Leo Baeck hielt im Sommer 1930 auch Gastvorlesungen an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Marburg. Weitere jüdische Denker, die sich um Wege hin zu einem Dialog von Juden und Christen bemühten, waren Hermann Cohen (1842–1918), Rabbiner Benno Jacob (1862–1945), Rabbiner Max Dienemann (1875–1939), Eduard Strauss (1876–1952) und Rabbiner Max Wiener (1882–1939) – allesamt Repräsentanten des liberalen Judentums. Robert Raphael Geis und Hans-Joachim Kraus haben mit ihrer Dokumentation „Versuche des Verstehens“ (1966) an diese ersten Ansätze jüdisch-christlicher Begegnung in den Jahren von 1918 bis 1933 erinnert. Dazu gehört die Ausgabe der liberalen jüdischen Monatsschrift „Der Morgen“ vom Juni 1933, die der Stellung des Geistlichen in der Gemeinde gewidmet war und auch die Rolle des Priesters in der katholischen Kirche zum Thema hatte. Dies sind nur einige wenige Beispiele für eine vielversprechende Entwicklung, der die Nationalsozialisten ein jähes Ende machten.
Nach der Befreiung 1945 kam es all mählich zu einer ersten selbstkritischen Besinnung der Kirchen und zu ersten gemeinsamen Gehversuchen. Ernst Ludwig Ehrlich beschrieb die Situation 1959 so: „Das ist also nun das Neue: Nicht mehr Mission, sondern ein Gespräch, in dem jeder das eigene vertritt, ein Dialog, in dem sowohl die Auffassung des Judentums, das muss man den Christen sagen, als aber auch die des Christentums, das muss man vielen Juden sagen, voll zur Geltung kommt, ohne jede Harmonisierung, aber auch ohne jede Diffamierung, von welcher Seite auch immer.“
Aus dem Zahlenverhältnis von Christen und Juden im Nachkriegsdeutschland – am 1. April 1955 zählten die jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik samt Berlin 15.684 Mitglieder – ergaben sich Asymmetrien im Dialog und in den Gremien der christlich-jüdischen Zusammenarbeit; dazu kam, dass die Vertreter eines aufgeklärten liberalen Judentums im Nachkriegsdeutschland in der jüdischen Gemeinschaft in der Minderzahl waren. Umso bemerkenswerter, dass es so viele liberale Stimmen waren, die auf jüdischer Seite von Anfang an am Dialog teilhatten, so etwa Kantor Edmund Lehmann, Siegfried Weltlinger und Jeanette Wolff in Berlin. Ich selbst erinnere mich gerne an Henny Seidemann, die jüdische Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit München - Regensburg.
Die liberalen Rabbiner Robert Rafael Geis (1906–1972), Nathan Peter Levinson (1921–2016) und Henry G. Brandt (geb. 1927) wurden zu den jüdischen Gesichtern des interreligiösen Gesprächs.
Levinson, der am 23. November dieses Jahres 100. Geburtstag hätte, war von 1965 an für fast 20 Jahre der jüdische Präsident des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit; Brandt folgte ihm von 1985 bis 2016. Heute ist es Rabbiner Andreas Nachama, der in diesem Amt das Erbe Leo Baecks in neue Bezüge setzt, so wie es auch alle anderen Kollegen und Kolleginnen in der ARK taten und tun.
Zurück zu Ernst Ludwig Ehrlich: Er empfand es als entscheidenden Durchbruch, dass im Oktober 1965 mit der Erklärung Nostra Aetate des Zweiten Vatikanischen Konzils formell Augenhöhe im theologischen Gespräch erreicht wurde. Was er aber drei Jahre nach der Konzilserklärung resümierte, gilt für das interreligiöse Gespräch an sich: „Zahlreiche Fragen treten auf: Wer soll was unternehmen? Wozu können sogenannte ‚Dialoge‘ führen? Wer kann Partner in den ‚brüderlichen Gesprächen‘ sein?“ Ehrlich war überzeugt: „Begegnung braucht menschliche Beziehung.“ Er forderte dabei mehr als guten Willen und gute Nachbarschaft ein, nämlich die Bereitschaft aller Beteiligten, auch die eigene Position zu hinterfragen. Ehrlichs Lehrer Leo Baeck hat uns aufgetragen, echten Respekt zu haben vor dem, was im anderen groß ist, und befand 1956: „Im Christentum ist vieles groß. Jahrhundert um Jahrhundert hat es Menschen getröstet, erhoben, hat es Wohltun und Hingebung ge pflegt, hat Hoffnung in ihnen aufrechterhalten.“
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