Wunder haben ihren Platz in unserem Leben
von Rabbiner Yuryi Kadnykov„Maj Chanukka?“, „was ist Chanukka?“, fragen unsere Gelehrten im Talmud, nachdem sie fast alle Gesetze bezüglich dieses Feiertages ausdiskutiert haben. Für mich ist es aber interessant zu fragen, was diesen Feiertag denn so besonders macht. Wenn ich über ihn nachdenke, fällt mir einiges auf. Chanukka ist ein nachbiblischer Feiertag, der bis heute in allen jüdischen Haushalten gefeiert wird und ähnlich wie zwei unserer Pilgerfeste acht Tage lang dauert. Nicht die historische Tatsache, dass es sich hier nach der Wiedereinweihung des Tempels im Jahr 164 v.u.Z. um das erste Fest handelt, das auf Sukkot folgt, ist spannend, sondern das Verlangen unserer Weisen nach einer Art Ausgleich zu den drei biblischen Pilgerfesten, um damit die Lücke im Jahreskreis zu schließen. Und obwohl der Feiertag seinen Status nur als Chol ha-Moed beibehielt, als Halbfeiertag, an dem Arbeitstätigkeit erlaubt ist, und dementsprechend einen „geringeren“ Status als die biblischen Feiertage hat, ist er innerhalb und außerhalb des Judentums
eines der bekanntesten jüdischen Feste, das Jahrtausende überlebte. Laut unserer Gelehrten sind uns die biblischen Feiertage als Geschenk gegeben, dagegen haben wir uns die postbiblischen Feiertage
selbst verdient. Daher heißt es, dass Feste wie Chanukka und Purim auch im messianischen Zeitalter erhalten und beliebt bleiben. Ich beobachte diese Tendenz in unseren Gemeinden, obwohl wir von Jammej ha-Maschiach, dem messianischem Zeitalter, weit entfernt sind.
Das Wunder verkünden
Die unpassenden historisch-politischen Hintergründe des Festes wurden von unseren Gelehrten aus der Chanukka-Erzählung verbannt. Außerdem haben unsere Weisen kein zusammenhängendes Traktat oder Kapitel über Chanukka in den traditionellen Kodizes hinterlassen. Das Fehlen von normativen Texten hat
die Möglichkeit geschaffen, verschiedene Bräuche zu etablieren und als Bestandteil hinzuzufügen. Vor der Haskala, der jüdische Aufklärung, und vor dem Zionismus hat man sich auf Pirsuma de-Nissa, die Verkündung der Wunder, konzentriert. Die Imperien, Königtümer und Staaten kommen und gehen, doch die menschliche Sehnsucht nach Wundern bleibt. Die Bekanntmachung der Wunder und die Verbreitung dieser Botschaft unterscheiden sich von den traditionell begründeten anderen Feiertagen. Diese basieren laut der Massoret, unsere Überlieferung, auf historischen Ereignissen, die nicht selten auch auf wundersame Art und Weise geschehen sind. Letztere waren immer ein Streitpunkt zwischen den Gelehrten. Sie haben ständig darüber debattiert, dass zum Beispiel die Teilung des Schilfmeeres kein Wunder war, sondern ein vom Ewigen vorprogrammiertes Naturereignis. Die Abneigung gegenüber Wundern als Beweismittel finden wir in der Geschichte über Tanur schel Achnaj (bT. Baba
Mazia 59b); dort, bei der Diskussion über den Ofen von Achnaj, lehnen unsere Gelehrten die Wunder als Beweismittel vehement ab. Die Erzählung im Talmud über das Chanukkawunder, nämlich vom Öl aus dem kleinen Krug, das acht Tage lang brannte, steht im Widerspruch zur rational-praktisch angelegten Denkweise. Diese Sicht war hier bewusst platziert, denn in den rational begründeten Denkweisen der Hellenisten, von denen die Makkabäer den geschändeten Tempel ja zurückerobert hatten, gibt es keinen Platz für Wunder: Alles, was noch nicht erklärbar ist, wartet auf die eigenen Deutungen, die sich einem irgendwann erschließen. Dass eine so banale und alltägliche Substanz wie Olivenöl ein Wunder hervorbringt, sollte unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, dass es in unserem Leben stets einen Moment, einen Ort für ein Wunder geben kann. Dies zu erkennen, ist und bleibt heutzutage die Herausforderung.
Chanukka sameach!
(Aus dem ARK-Mitteilungsblatt, 5. Ausgabe, Chanukka 2020/5781)
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