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Die Omerzeit - Blick nach vorn

Zwischen Pessach und Schawuot dominieren Tage der Trauer – doch es ist eine Periode des Aufbruchs

von Rabbiner Nils Ederberg

Aus dem jüdischen Kalender können wir viel über das Judentum lernen, denn in der Mischung aus Werk- und Feiertagen, aus Höhepunkten und ereignislosen Wochen, aus fröhlichen und traurigen Tagen sehen wir, wie Juden im Laufe der Geschichte die Welt wahrgenommen und sich in ihr eingerichtet haben. »Sfirat haOmer«, das Zählen des Omer (und die danach benannte Omerzeit) ist dabei ein merkwürdiges Phänomen.

Einerseits zählen wir 49 Tage lang. Gleich nach der wöchentlichen Feier des Schabbat ist das Omerzählen daher das zweithäufigste Ereignis des jüdischen Jahres. Andererseits ist das Omerzählen tatsächlich nur dies: Man zählt Tage. Die Omerzeit ist eine Zeit des Wartens auf Schawuot. Man beginnt am zweiten Pessachabend zu zählen und endet einen Tag vor Schawuot.

Im Laufe der Zeit wurde das simple, biblisch gebotene Zählen mit weiteren Bräuchen und Deutungen versehen. Aufgrund rabbinischer Quellen wird die Omerzeit als eine Zeit der Trauer und der gespannten Erwartung verstanden. Nach einer späten talmudischen Überlieferung war es genau in dieser Zeit, dass die Römer Tausende der Schüler Rabbi Akiwas umgebracht haben.

Ernte

Eine andere Stelle schaut auf den landwirtschaftlichen Hintergrund von Pessach und Schawuot. Nach der Gerstenernte vor Pessach wartet man eine lange Zeit auf die Weizenernte vor Schawuot und fragt sich, ob alles gut geht, ob die richtige Menge an Wasser und Sonne zu einer guten Ernte führt oder ob das Überleben gefährdet ist.

Zu dieser Trauerzeit gehört, dass man in diesen Wochen nicht heiratet, sich nicht die Haare schneidet und überhaupt alle freudigen Gelegenheiten zu vermeiden sucht, für die man »schehechejanu« sagt – das Lob Gottes, der einen diese besondere Zeit erleben lässt. Dies schließt das Kaufen neuer Kleidung genauso ein wie das erstmalige Essen besonderen Obstes im Jahr. Andererseits werden diese Verbote aber außer Kraft gesetzt, wenn sie einen über Gebühr belasten (etwa in dem Fall, wenn der Arbeitgeber Rasur und Haarschnitt verlangt).

Auch wurde der lange Abschnitt von sieben Wochen mit der Zeit in sich differenziert und aus der Trauerzeit einzelne Tage oder Abschnitte wieder herausgelöst. Schabbat und Neumond können ja sowieso keine Trauertage sein, kommen aber in der Omerzeit mehrfach vor.

Lag Baomer

Vor allem wurde aber der 33. Tag als »Lag BaOmer« zu einem Tag der Freude, denn hier hörte nach einer im 14. Jahrhundert erstmals belegten Tradition das Sterben der Schüler Rabbi Akiwas an einer Seuche auf. Für manche endet die Trauerzeit mit Lag BaOmer. Der Rest der Omerzeit ist dann von den Trauergebräuchen befreit.

Für andere ist die Omerzeit nur einen Tag lang unterbrochen. Auch moderne Ereignisse fallen in die Omerzeit. Jom Haatzmaut, der israelische Unabhängigkeitstag, gilt für viele als ein mit Chanukka und Purim vergleichbarer Tag der Freude und Rettung. Auch Jom Jeruschalajim, der Tag der Eroberung Ost-Jerusalems im Sechstagekrieg 1967, wird von etlichen so verstanden und gefeiert.

Ein weiterer Schritt, die Omerzeit mit mehr Bedeutung zu füllen, ist von den Kabbalisten vollzogen worden. Dadurch, dass nicht alle Schüler Rabbi Akiwas gestorben sind, wurde auch die Tora gestärkt. Der wichtigste Schüler Rabbi Akiwas war Schimon Bar Jochai, der mystische Autor des Zohar, des kabbalistischen Kommentars zur Tora. An seinen Tod wird an Lag BaOmer erinnert.

Wallfahrt

Für viele Sefarden und Chassiden in Israel ist die Wallfahrt zum Grab Schimon Bar Jochais am Har Meron ein Höhepunkt des Jahres. Hunderttausende reisen an und feiern. Sie schlafen auf den Gräbern bekannter Rabbiner und verwandeln ganze Wälder in Camping- und Picknickplätze.

Daraus hat sich in der jüngsten Zeit entwickelt, dass die gesamte Omerzeit Tag für Tag mit einer Reihe von mystischen Meditationen begangen wird. Sieben Tage stehen dabei für die sieben niederen Sefirot oder Seinsweisen Gottes. Sieben Wochen mal sieben Tage führen zu 49 Kombinationen dieser Sefirot – und bereiten den Mystiker auf den tieferen Sinn der Offenbarung am Sinai vor.

Die hier dargestellten Aspekte der Omerzeit zeigen, wie wir Juden diese Zeit des Zählens verstehen wollten und wollen. Die Grundfrage ist hierbei, was mit dem Wechsel von Freude und Trauer gemeint ist – und wie wir heute dazu stehen. Im einfachsten Bild formuliert, stellt sich uns hier die Frage, ob das Glas »halb voll« oder »halb leer« ist, also ob wir die Welt positiv oder negativ sehen wollen.

Beides hat seine Berechtigung in der jüdischen Tradition. Beides hat seine Berechtigung in der von Katastrophen gezeichneten jüdischen Geschichte. Beides spiegelt die Erfahrung unserer Zeit wie auch das Leben jedes Einzelnen von uns. Was aber sind die Konsequenzen dieser beiden Sichtweisen – der positiven wie der negativen – für uns und für unsere Kinder? Wie sehr soll man das Negative betonen, das Schlimme, das passiert ist?

Diese Frage sollen wir auch an die Zeit der Omerzählung stellen. Das Entscheidende an ihr sind die beiden Grenzpunkte, die sie miteinander verbindet: Pessach und Schawuot.

Freiheit

Pessach ist das Fest der Freiheit. Wir erinnern uns jedes Pessach zwar an die Sklaverei in Ägypten, aber der Fokus liegt nicht auf dem Leid, sondern auf der Befreiung, die uns den Weg zu Schawuot, dem Fest der Gabe der Tora, erst ermöglicht hat.

Die äußere Freiheit von Sklaverei reicht an Schawuot aber noch nicht aus. Es braucht auch die innere Freiheit, die Gabe der Tora anzunehmen, sie annehmen zu können und annehmen zu wollen. Gott konnte an Pessach einen widerspenstigen und unwilligen Haufen von Sklaven »mit starker Hand« zu seiner äußeren Freiheit zwingen. Die für die Annahme der Tora notwendige innere Freiheit jedes Jahr neu zu entwickeln und zu stärken, wäre vielleicht heute eine wichtige Aufgabe der Omerzeit.

Das bedeutet nicht, die im Laufe der jüdischen Geschichte gewachsenen Traditionen einfach aufzugeben. Es bedeutet aber, die Zeit neu zu gewichten und auf dieses positive Ziel auszurichten.


Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 7.5.2015.

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