hauptmotiv

KORACH

Volkes Wille

Was die Tora über das Verhältnis von Macht und Autorität in den jüdischen Gemeinden sagt

Auslegung von Rabbinerin Shillor

 Rabbiner J. H. Hertz bezeichnet den Wochenabschnitt „Korach“ als die „Große Meuterei“. Rabbiner Gunther Plaut spricht vom „Aufstand von Korach“. Jacob Milgrom sieht hier einen „Übergriff auf die Stiftshütte“. Weshalb wird der fragliche Zwischenfall so negativ bewertet? Gleich zu Beginn des Tora-Abschnitts wird der Aufstand gegen Moses’ Führung so charakterisiert: „Und es unternahm Korach ... und Datan und Abiram ... und sie traten hin vor Mosche, dazu 250 Männer von den Kindern Jisrael, Fürsten der Gemeinde, Männer von Namen. Und sie scharten sich gegen Mosche und Aharon und sprachen zu ihnen: Zu viel für euch! Denn die ganze Gemeinde, sie alle sind heilig, und in ihrer Mitte ist der Ewige. Und warum erhebt ihr euch über die Volksschar des Ewigen?“ (4. Buch Moses 16, 1-3)
Diese Infragestellung von Moses’ Autorität scheint uns im Grunde doch völlig legitim. Schließlich wollte Korach bloß sagen, daß das gesamte Volk Israel am Sinai geheiligt wurde, und Moses’ alleiniger Führungsanspruch, modern ausgedrückt, undemokratisch ist. Implizit geht es bei Korachs Herausforderung um die Frage: Welche Rolle spielt eigentlich die Gemeinde insgesamt bei der Bildung, Neuausrichtung und Bewahrung des damaligen und damit auch des heutigen Judentums?
Formulieren wir die Frage anders: Dürfen nur Rabbiner das jüdische Gesetz verändern oder haben auch jüdische Laien ein Mitspracherecht? Für die Orthodoxie sind Tora und Halacha göttlichen Ursprungs, daher sind nur Rabbiner zu Änderungen an der Halacha berechtigt. Manche Änderungen kommen jedoch gleichsam durch die Hintertür, wenn allgemein übernommene Minhagim (Bräuche) zu halachischem Recht werden. Das Konservative Judentum vertritt die Auffassung, es seien zwar die Rabbiner, die Änderungen an der Halacha vornehmen dürfen, aber die Gemeinde könne mitentscheiden, welche Änderungen sie zu akzeptieren bereit ist. Das Reformjudentum geht auf eine Laienbewegung im Deutschland des 19. Jahrhunderts zurück. Der rabbinische Einfluß ist hier zwar erwartungsgemäß sehr stark, aber es ist doch die Gemeinde, die letzten Endes die Richtungsentscheidungen trifft. Das Rekonstruktionistische Judentum ist vielleicht die Richtung, die am offensten für eine Zusammenarbeit von Rabbinern und Laien bei der Formulierung eines modernen Verständnisses des Judentums und seiner Richtlinien ist.
Weshalb also war Korachs Aufstand derart problematisch? Hätte sie erst einmal die Macht gehabt, wäre die Gemeinde als ganze Gefahr gelaufen, das jüdische Gesetz und die jüdische Überlieferung zu verzerren. Rabbiner Riskin führt dieses Beispiel an: „Würden morgen fünf Millionen amerikanische Juden dafür stimmen, die Beschneidung durch einen Mohel sei nicht länger erforderlich, würde diese Stimmabgabe das Gesetz ändern?“
Die berechtigte Sorge ist die, daß eine Mehrheit, die in Unwissenheit, vorschnell oder aus bloßem Widerstand handelt, die heiligen Grundfesten des Judentums erschüttern könnte. In Pirkei Avot – Die Lehren der Weisen – lesen wir: „Ein Streit um des Himmels Willen hat fortdauernden Wert, aber ein Streit, der nicht um des Himmels Willen geführt wird, hat keinen Bestand. Welcher Streit wurde um des Himmels Willen geführt? Der Streit zwischen Hillel und Schammai. Und welcher wurde nicht um des Himmels Willen geführt? Der Streit zwischen Korach und allen seinen Verbündeten.“ (Pirkei Awot 5, 20)
Die Forderung Korachs scheint auf den ersten Blick nachvollziehbar, aber bei genauerem Hinsehen müssen wir doch feststellen, daß er das Volk nur für seine eigenen Ziele und für sein Streben einspannt, sich selbst an Moses’ Stelle zu setzen. Was wie eine demokratische Forderung aussieht, ist in Wahrheit die populistische Taktik des Demagogen: Die eigenen autoritären Ziele werden unter dem Mantel des Ge- meinschaftsinteresses verborgen. Im Midrasch Schmuel wird die Frage aufgeworfen: Weshalb lautet der Vers aus Pirkei Awot nicht: „der Streit zwischen Korach und Moses?“ Weil Moses nur ehrenhafte Beweggründe hatte. Die Absichten Korachs wurden ganz eindeutig nicht „im Namen des Himmels“ verfolgt.
Es besteht ein scharfer und wichtiger Unterschied zwischen einer Reform aus dem Inneren des Systems und einem Angriff von außen auf das System. Manche Juden stellen sich aufgebracht gegen die rabbinische Tradition und haben für die rabbinische Autorität nur Verachtung übrig. Andere Juden treten nachdenklich und mit Respekt an die jüdische Überlieferung heran und wollen sie zugleich umgestalten und ihren Kern bewahren. Sie bemühen sich eher um eine Zusammenarbeit mit den Rabbinern als um deren Ablösung.
Im frühen 20. Jahrhundert vertrat Rabbiner Solomon Schechter die Auffassung, daß das jüdische Volk in seiner Gesamtheit bei der Umformulierung des jüdischen Gesetzes berücksichtigt werden müsse. Rabbiner Robert Gordis schlug einige Jahrzehnte später vor, daß nur die Auffassung der gebildeten, observanten und engagierten Juden Berücksichtigung finden sollte. Wissen und Engagement sind angemessene Kriterien für die Zulassung von Personen zu Debatten um die Reform des Judentums.
Die Rebellion Korachs wurde durch ein göttliches Feuerwerk bloßgestellt. Die Herausforderung, die er formuliert hat, läßt sich in unserer Zeit nicht so einfach abweisen. Die Krise der Kontinuität des Judentums geht alle betroffenen Juden an, Rabbiner ebenso wie Laien.
Ungeachtet unserer unterschiedlichen Auffassungen lehrt uns doch die Geschichte Korachs, daß unsere Debatten nur dann produktiv sein können, wenn wir uns bemühen sie „um des Himmels Willen“ zu führen.

Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 29.6.2006.

14.06.2013 Artikelarchiv >>
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