hauptmotiv

ACHAREI MOT

Selbst verantwortlich

Es hat für den Menschen auch sein Gutes, dass es heute keine Tieropfer und Hohepriester mehr gibt

Auslegung von Rabbiner Pal

 Was wäre unsere Gesellschaft ohne Normen, Vorschriften und Grenzen? Wie sähe es aus, wenn jeder machte, was er will, ohne auf Gesetze zu achten? Es würde Anarchie herrschen, ein Zustand ohne Recht. Dasselbe würde auch für die Kinder Israels in der Wüste gelten, aber der Ewige hat eine Lösung parat: Er gibt ihnen die Tora, die sie ethisch-moralisch und gesellschaftlich-rechtlich in die Schranken weist. Sie soll ihnen eine Anleitung zum Leben sein. Nach so vielen Jahren in der Sklaverei brauchen die Menschen klare Regeln. Und so beschäftigt sich das gesamte 3. Buch Moses damit, Grenzen für die Menschen aufzustellen: zwischen Heiligem und Profanem, Erlaubtem und Verbotenen.

Wir lesen, wie die Kinder Israels unterrichtet wurden im Umgang miteinander und mit Gott. Diese Regeln, eine Art ethisch-moralisches Kompendium, gelten bis heute. Rachel Adler, Professorin für jüdische Philosophie am Hebrew Union College in Los Angeles, bezeichnet die Kapitel 17-26 des 3. Buches Moses als eine »holiness school«, eine Schule der Heiligkeit. Sie lehrt die Hebräer nicht nur, was sie essen dürfen und wo sie sich reinigen müssen. Die zentrale Botschaft ist vielmehr, zu zeigen, welches Handeln im Umgang mit den Mitmenschen richtig ist und welches falsch.

TIEROPFER

Der Abschnitt Acharej Mot beginnt mit der Beschreibung der Zeremonie, die der Hohepriester, solange der Tempel stand, jedes Jahr an Jom Kippur durchzuführen hatte. Er musste vor den Ewigen treten und Handlungen vollziehen, um die Sünden des Volkes zu sühnen. Diese Zeiten sind lange vorbei, wir haben uns vom Tieropfer verabschiedet. Doch jedes Jahr an Jom Kippur, wenn wir diesen Abschnitt lesen, erinnern wir uns daran, was einst im Tempel geschah und wie der Hohepriester für uns sühnte.

Jom Kippur ist und bleibt wohl der einzige Tag im Jahr, zu dem die Mehrzahl der Juden eine starke emotionale Bindung hat. Immer wieder habe ich in der Synagoge beobachtet, dass diejenigen, die das ganze Jahr über nie zum Gottesdienst kommen und auch sonst keinen Fuß in die Gemeinde setzen, das Kol Nidre beten. Sie kommen nicht, um ihre Bekannten zu sehen und sich mit ihnen auszutauschen. Nein, sie kommen, um für ihre Sünden um Vergebung zu bitten. Das ist ein wirklich heiliger Moment. Auch wenn die Mehrheit der Menschen heute ein Leben führt, das außerhalb der Observanz liegt, sind sie am Jom Kippur wie ausgetauscht.

SÜHNE

Zurück zum Wochenabschnitt und zu einigen sehr erheblichen Details. So steht zweimal, dass Aharon zuerst sich selbst und sein Haus, die Priesterkaste, sühnen musste (16,6 und 16,11) und erst danach das Sühnopfer für die ganze Gemeinschaft darbringen konnte (16,21). Es stellt sich die Frage, warum Aharon dreimal sühnte? Hätte ein Mal nicht gereicht?

Die Kommentare zu diesem Abschnitt sind sich in dieser Frage einig. Jemand, der selbst sündigt und Gesetze übertritt, kann nicht für andere um Vergebung bitten. So ist es nötig, dass der Hohepriester zuerst seine eigenen Vergehen sühnt. Erst dann kann er für die anderen Priester um Vergebung bitten. Und nachdem auch diese gesühnt sind, kann für das ganze Volk um Vergebung gebeten werden.

Der mittelalterliche Kommentator Raschi (1040–1105) beruft sich in seiner Erklärung auf den Talmud (Joma 43b): »So wurde im Lehrhaus von Rabbi Ischmael gelehrt: Rechtfertig und wohlanständig ist es, dass ein Sündenloser dem Versündeten die Sühnung bringt und nicht ein Versündeter dem Sündenlosen.« Dieses scheinbar kleine Detail bringt eine sehr wichtige Botschaft über: dass nämlich auch der Hohepriester und die gesamte Priesterkaste nicht eine vom Rest des Volkes abgesonderte Gruppe waren, sondern, genauso wie alle anderen, auch Gebote übertraten und sich vor Gott versündigten.

TEMPEL

Heute haben wir keinen Tempel mehr und auch keinen Hohepriester, der für den Erlass unserer Sünden beten könnte. Wir sind selbst gefragt, für unsere Vergehen, die wir vor Gott und den Menschen begangen haben, geradezustehen. Aber reicht es, einfach in die Synagoge zu gehen und zu beten? Sind ein paar Worte gen Himmel genug, um ein weiteres Jahr so zu leben wie im Jahr zuvor?

Maimonides, der Rambam (um 1135–1204), gibt in seinen Hilchot Tschuwa ganz klare Richtlinien, wie und in welchem Umfang wir uns für unsere Missetaten vor Gott und den Mitmenschen entschuldigen müssen. Es reicht nicht, einfach zu sagen, ich war böse und tue es nicht wieder. Vielmehr soll das Ziel sein, nicht nur mit Worten, sondern mit Taten zu zeigen, dass man die Sünden nicht mehr begehen will. Wer diesem Weg folgt, ist auch einen Schritt näher an der Heiligkeit, von der im 3. Buch Moses gesprochen wird.

Weil es keinen Tempel mehr gibt, können wir uns nicht mehr rein technisch über den Hohepriester entsühnen. Doch dies eröffnet einem jeden von uns die Möglichkeit, sich viel mehr mit den eigenen Untaten auseinanderzusetzen. Denn es bedarf weit mehr als eines toten Rindes, um sich von den Sünden reinzuwaschen und Heiligkeit zu erlangen.

Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 14.4.2011.




23.04.2013 Artikelarchiv >>
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