WAJIGASCH
Tretet näher!
Auslegung von Rabbiner NavonIn unserem Wochenabschnitt für diesen Schabat "Wajigasch" offenbart sich Josef seinen Brüdern: ,,Ich bin Joseph, lebt mein Vater wirklich noch?" (Bereschit 45:3). Aus der vorherigen Erzählung wissen wir, dass Josef weiss, dass sein Vater lebt. Aber Jakob lebt wie der Vater, wenn zwischen den Brüdern die wahre Versöhnung verwirklicht wird. Als einer seiner Söhne von zehn Brüdern in die Sklaverei verkauft wurde, hörte er auf, für diese zehn Brüder Vater zu sein.
Deswegen fragt Josef die zehn Brüder in der Wirklichkeit, ob sie bereit sind, wieder die Söhne ihres Vaters und seine Brüder zu werden.
„Aber seine Brüder“, sagt die Tora, „konnten ihm nicht antworten, denn sie schraken zurück vor ihm“ (dort). Der noble ägyptische Fürst, von dem ihr Leben, wie sie dachten, abhing, erwies sich als der ihnen ergebener Bruder. In der Wirklichkeit war ein solcher Josef für sie bedeutend schlimmer, als ein fremdländischer mächtiger Führer. Jetzt hat er die volle Möglichkeit, sich an ihnen zu rächen. Aber sie wurden nicht nur von dieser verständlichen menschlichen Angst übermannt. Weil sie erst jetzt dessen bewusst wurden, was für eine Tragödie ihr Leben vor diesem Treffen war. Da sie, indem sie Josef in die Sklaverei verkauft hatten und seine mit Blut beschmierten Kleider ihrem Vater gebracht hatten, sie nicht nur aufhörten, Söhne ihres Vaters Jakob zu sein. Sie hörten in diesem Augenblick auf, Söhne unseres himmlischen Vaters zu sein.
Das ist die schlimmste Strafe für jeden Juden und jede Jüdin: das eigene Gewissen zu verlieren und es nicht einmal zu bemerken. „Ich hörte auf, ich selbst zu sein. Die anderen haben es bemerkt, ich noch nicht.“ In dem Augenblick, als die Brüder Josef wieder erkannten, jeder von ihnen wurde sich dessen bewusst, in welchem Abgrund des Nichtseins er bis jetzt war.
Das verblüffendste in dieser Geschichte ist, dass Josef ihr dieses Bewusstwerden sieht. Und er streckt ihnen seine Hand aus, um sie aus diesem Abgrund des Nichtseins herauszuholen: „Da sprach Josef zu seinen Brüdern: Tretet näher zu mir! Und sie näherten sich; und er sprach: Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und nun kränket euch nicht und es entbrenne nicht in euren Augen, dass ihr mich hierher verkauft; denn zur Lebenserhaltung G‘‘tt mich vor euch her gesandt hat.“ Josef erinnerte sie daran, dass auch als sie die Verbindung mit ihrem himmlischen Vater verloren hatten, hatte G‘‘tt Israels sie nicht verlassen. Vor unseren Augen geschieht das Unmögliche: Die von innen heraus zerstörte Familie lebt wieder auf, durch ihre Wiedervereinigung.
Viele können sagen, dass dies eine antike Legende antiker Leute ist, deren Ideal bis heute Munde. Sie wiederholt sich in unserem Leben immer wieder. Die Juden erkennen sich gegenseitig wieder als Brüder. Sie sind erschüttert, was für ein dramatischer Prozess sie zur Versöhnung miteinander und mit sich selbst führt. Wie viele geistige Kraft, Geduld und Aufmerksamkeit das erfordert. Aber mit unserem himmlischen Vater, dem G‘‘tt Israels ist es schwer zu streiten. Derjenige, der es nicht wagt, diesen Prozess zu beginnen, bleibt im Abgrund des Nichtseins.
Für unser psychisches Wohlbefinden ist es besser, die Unannehmlichkeiten in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen als eine notwendige Stufe zu sehen, zu uns selbst aufzusteigen. Ich denke, dass jemand mir Unannehmlichkeiten verursachte, aber das ist die nächste Stufe, die der Ewige mir in der Leiter Jakobs setzte.
31.12.2012 Artikelarchiv >>
Rabbiner & RabbinerinnenStrömungenPositionenBet DinPublikationenLinksImpressum |
Home © Allgemeine Rabbinerkonferenz |