hauptmotiv

SCHELACH LECHA

Angst ist ein Gift

Auslegung von Rabbinerin Klapheck

Vor vielen Jahren habe ich einmal ein Gelübde abgelegt: mich nie wieder von meiner Angst einschüchtern zu lassen. Diesem Moment ging eine Situation voran, in der ich einen Text von mir öffentlich vorlesen sollte. Ich hatte lange an diesem Text gearbeitet, er enthielt die Quintessenz meiner damaligen Gedanken. Eigentlich war ich stolz auf ihn. Doch dann, als mich die Gesichter jener, vor denen ich nun lesen sollte, so – wie es mir erschien - undurchdringlich, ausdruckslos anblickten, überfiel mich plötzlich eine diffuse Angst. Ich hörte schon die Kritik dieser Leute, die auf einmal alle so souverän und des rechten Urteils fähig aussahen, obwohl noch niemand etwas gesagt hatte. Mein Text erschien mir plötzlich lächerlich banal. Während ich las, begann ich auch schon mir selber innerlich zu widersprechen und meine eigene Gedankenführung zu widerlegen. Fast hätte ich mich für das, was ich da vortrug, entschuldigt. Während ich immer unsicherer wurde, verhaspelte ich mich in den immer endloser werdenden Zeilen und hatte am Ende das Gefühl ein Nichts zu sein. Ich schämte mich.

Von genau diesem Phänomen handelt der Wochenabschnitt dieses Schabbat: Schelach Lecha – im vierten Buch Mose – Numeri, ab Kapitel 12.

Schelach Lecha – Sende aus... – Moses soll zwölf Kundschafter aussenden, um einen ersten Eindruck von dem versprochenen Land zu gewinnen, an dessen Grenze die Israeliten jetzt angekommen sind. Wie ist das Land beschaffen? Wie seine Böden, wie seine Früchte? Wer wohnt dort? Und mit welchen Widerständen wird man beim Einzug zu rechnen haben.

Zehn der Kundschafter verzagen. Nach 40 Tagen kommen sie zurück und beschreiben die in Kanaan lebende Bevölkerung als furchterregende Riesen, denen niemand etwas anhaben könne. Immer angsteinflößender werden die Beschreibungen von den angeblichen Übermenschen, die Kanaan bevölkern. Und immer mickeriger empfinden sich dabei die Israeliten - nicht mehr als einer kleiner Schwarm von Heuschrecken seien sie, die doch dieses Land noch einnehmen müssen.

Eigentlich haben die Israeliten allen Grund selbstbewusst zu sein. Der Auszug aus der Sklaverei in die Freiheit hat geklappt. Der mächtige Pharao ist mit seinen Rossen und Reitern in den Fluten des Schilfmeeres untergegangen. Von einer ursprünglich amorphen Horde von Sklaven haben sich die Israeliten zu einer freien Nation emanzipiert. Bei der Offenbarung am Berg Sinai haben sie sich alle – Männer, Frauen und Kinder – zur Torah bekannt, der historisch vielleicht ersten Verfassung einer freien Nation. Und selbst die unwegsame Sinai-Wüste - die vielen Gefahren, die in ihr lauern, haben sie Mal um Mal überstanden – phasenweise kein Wasser, kein Essen, zugleich Schlangen und giftige Insekten, Krankheiten und Seuchen, und außerdem feindlich gesinnte Wüstenstämme, die hinterrücks angreifen. Zeichen und Wunder gab es genug, um zu wissen, dass dieser Weg ans Ziel führen kann.

Doch gerade jetzt, wo das Ziel in Sichtnähe gerät, da verzagt man plötzlich. Da beginnt das Volk wieder zu schreien: Ach wären wir doch Sklaven in Ägypten geblieben, dort, wo es Fleischtöpfe gab, von denen wir zwar nicht aßen, aber bei denen wir wenigstens sitzen durften. Da verliert sich auf einmal das Selbstbewusstsein in dem Maßstab einer größeren Macht. Da wird das Selbstbild zu dem einer Heuschrecke und das Bild des vermeintlich Mächtigen zu dem eines Riesen. Die Dynamik der diffusen Angst nimmt ihren Lauf und das angestrebte Ziel verkehrt sich in sein Gegenteil – in etwas Negatives, das man auf einmal ablehnt.

In dem Abschnitt heißt es:
Und sie – die Kundschafter - berichteten den Israeliten Böses von dem Lande, das sie ausgekundschaftet hatten, sie sprachen: Das Land, das wir durchzogen haben, ist ein Land, das seine Bewohner verzehrt. (13:32)

Kein Land, in dem wir von der erträumten Milch und dem Honig genießen werden. Sondern ein schreckliches Land, das seine Bewohner verzehrt – ein Land, in dem wir zugrunde gehen werden. Ein Land, das sich nicht lohnt, dass man dorthin zieht.

Ich frage mich, wie oft Menschen, wenn sie etwas ablehnen, dieses in Wahrheit begehren – ihre Angst über sich siegen lassen und sich fortan in einer selbstversklavenden Ablehnung einrichten.

In heutigen dem Wochenabschnitt glauben von den zwölf Kundschaftern nur Jehoschua und Kalev weiterhin an die Machbarkeit, im Lande Kanaan anzukommen.

Jehoschua aber, der Sohn Nuns, und Kalew, der Sohn Jefunes, die zu den Kundschaftern des Landes gehört hatten, zerrissen ihre Kleider. Und sie sprachen zur ganzen Gemeinde der Israeliten: Das Land, das wir durchzogen und ausgekundschaftet haben, das Land ist wunderschön. Wenn der Ewige Wohlgefallen an uns hat, so wird er uns in dies Land bringen und es uns geben, das Land, das von Milch und Honig fließt. (14:6-8)

Und Jehoschua und Kalew werden später auch die einzigen ihrer Generation sein, die die Eroberung des Landes erleben. Die anderen zehn Kundschafter sind an ihrem Verzagen zugrunde gegangen.

Ich lese diesen Tora-Abschnitt und erinnere mich an mein damaliges Gelübde: mich von meiner eigenen Angst nicht mehr einschüchtern zu lassen. Merkwürdig fremd erscheint mir heute das einstige, diffuse Gefühl, das mich ergriff und verhindern wollte, dass ich meine Ziele erreiche. Ja - man kann sich tatsächlich für oder wider die Angst entscheiden – und diese Entscheidung bestimmt am Ende darüber, ob man in sein Land einziehen wird, oder ihm den Rücken kehrt und fortan in der Wüste irrt.



13.01.2017 Artikelarchiv >>
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