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Diktatoren in ihrem eigenen Zwangssystem gefangen

Auslegung von Rabbinerin Elisa Klapheck

Der heutige Wochenabschnitt der Tora enthält den zweiten Teil der zehn Plagen. Letzte Woche lasen wir, wie Moses und Aaron zum Pharao gehen und ihn auffordern, das Volk der Hebräer in die Wüste ziehen zu lassen, damit es dort seinem Gott diene. Die Reaktionen des Pharao sind unterschiedlich. Anfangs hört er nicht auf Moses und Aaron. Zu verstockt ist sein Herz. Es folgen die Plagen - das
Wasser des Nils verwandelt sich in Blut, Frösche überziehen das Land, gefolgt von Ungeziefer, wilden Tieren und anderen Schrecklichkeiten. Bei jeder Plage erwägt der Pharao die Hebräer ziehen zu lassen; kaum nimmt die Plage ab, besinnt er sich eines Anderen und wird wieder hart.

Wir sind geneigt, den Pharao als den Bösen und die Hebräer als die Opfer zu sehen. Die Formulierungen der Tora zeigen jedoch ein vielschichtigeres Bild. Längst weiß der Pharao, dass er eine große Sünde begeht, indem er die Kinder Israel nicht ziehen lässt. In unserem heutigen Abschnitt sagt er zum Beispiel nach der Heuschrecken-Plage:
„Ich habe gegen den Ewigen, euren Gott, und gegen euch gesündigt! Nun aber verzeiht doch meine Sünde nur noch diesmal; betet zum Ewigen, eurem Gott, dass er nur dies Verderben von mir abwendet.“ (Ex. 10:16-17)
Klar – man kann dem Pharao Heuchelei vorwerfen. Er bittet zum wiederholten Male um Verzeihung – „nur noch diesmal“, um dann kurz darauf wieder hart zu werden. Was trotzdem frappiert: Er kennt den Gott der Israeliten! Er nennt ihn selbst beim Namen: „Ich habe gegen den Ewigen, euren Gott, und gegen euch gesündigt!“ Er weiß also, dass es Gott selbst ist, der ihn in diesem Szenario herausfordert.

Der Wochenabschnitt handelt von jenem fatalen Zwangsmechanismus – wenn Gesellschaften von sich aus nicht in der Lage sind, wichtige Reformen und Erneuerungen zu verwirklichen. In der ägyptischen Gesellschaft galt der Pharao als Gott. Die Gesellschaft erwartete von ihm, die Gottheit zu repräsentieren. Er konnte gar nicht anders, als an der Vorstellung festzuhalten, die das ägyptische Gesellschaftssystem zusammenhielt. Er war ein Gefangener des Systems, das er selbst repräsentierte.

Nicht nur der Pharao, auch das ägyptische Volk scheint in der Darstellung der Tora das Problem beim Pharao zu sehen:
„Da sprachen die Diener zum Pharao: wie lange noch soll uns dieser Moses zum Fallstrick sein? Lass die Leute ziehen, dass sie dem Ewigen, ihrem Gotte dienen! Merkst du denn noch nicht, dass Ägypten zugrunde geht?“ (Ex. 10:7)

Das Problem liegt aber nicht in der Persönlichkeit des Pharao – sondern viel tiefer: im System. Religiös gesehen, so stellt es die Tora dar, wurde das ägyptische System von den Erstgeborenen repräsentiert. Darum läuft die zehnte Plage auf die Erschlagung der Erstgeborenen hinaus, in der nun Gott selbst das ägyptische System zerstört. Wieder erscheint es, als wisse der Pharao genau, worum es in der Konfrontation geht – und als stehe er insgeheim sogar auf der Seite des hebräischen Volkes, das in dieser Nacht in die Freiheit ziehen wird, heißt es.
„Da ließ er Mose und Aaron in der Nacht rufen und sprach: machet euch auf, zieht von meinem Volke hinweg, ihr sowohl wie die Kinder Israels, und geht, dienet dem Ewigen, wie ihr gesprochen! Auch eure Schafe, auch eure Rinder nehmet mit, wie ihr gesprochen, und geht und segnet auch mich!“ (Ex. 12:31-32)

Ich erinnere mich, dass ich in der Zeit des Arabischen Frühlings mit Ägyptern über die Exodus-Erzählung gesprochen habe. Es kam mir der Gedanke, dass die Israeliten Glück hatten, weil sie gehen konnten. Sie konnten mit einer neuen Religion in einem neuen Land noch einmal neu anfangen. Die Ägypter hingegen mussten zurückbleiben und in ihrem alten pharaonischen System weiter machen. Daran muss ich heute denken, wenn Diktaturen die Zeit überdauern, selbst dann, wenn die Mehrheit der Bevölkerung längst erkannt hat, was in ihrem Gesellschaftssystem im Argen liegt.

Die Tora gibt keine Antwort auf die Frage, ob die Religion der Israeliten in irgendeinem Sinne zur besseren Entwicklung Ägyptens hätte beitragen können. Aber wir heute, die wir in einer freien Gesellschaft leben, wissen, dass uns die Unrechtssysteme, in denen Andere leben, nicht gleichgültig lassen dürfen. Indem uns der Abschnitt der Tora nahelegt, dass der Pharao um seine falschen
Herrschaftsmechanismen weiß, sind wir möglicherweise aufgefordert über Wege
nachzudenken, Diktatoren aus den Zwangsstrukturen herauszuhelfen.

Schabbat Schalom

Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung des rbb, dort gesendet am 15.01.2016.

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