hauptmotiv

SCHLACH LECHA

Krise

Die Aktualität eines Kommentars aus dem Jahre 2016

Auslegung von Rabbiner Nils Ederberg

Große Ereignisse geschehen in diesen Tagen vor unseren Augen. Die Menschen schwanken zwischen Hoffnung und Furcht. Die Führer des Volkes sprechen mit ganz unterschiedlichen Stimmen und kein Mensch weiß, wem er vertrauen kann, was die Zukunft bringen wird.

So könnte man die Stimmung in Großbritannien nach der Entscheidung für den Ausstieg aus der Europäischen Union beschreiben. So kann man aber auch charakterisieren, was wir in der Tora in dieser Woche im Abschnitt Schlach Lecha lesen.

Ungefähr ein Jahr ist vergangen, seitdem das Volk Israel aus Ägypten befreit wurde. Am Berge Sinai hat es die Tora empfangen und nun ist man auf dem Weg zum Ziel der ganzen Wanderung, zum Land Israel. Als man dem Land schließlich nahe gekommen ist, schickt man Kundschafter aus, die es erforschen sollen:

"Zieht durch das Land und schaut, was für ein Land es ist. Sind die Menschen dort viele oder wenige, sind sie stark oder schwach? Ist das Land, in dem sie leben, gut oder schlecht?"

Nach etlicher Zeit kommen die Kundschafter zurück und berichten. Das Land sei überaus fruchtbar, aber auch voller starker Völker. Daraufhin bekommt das Volk Angst und beschuldigt seine Anführer, es in den sicheren Tod zu führen. Da sei es doch besser, wieder in die Sklaverei nach Ägypten zurückzukehren.
Die Krise ist da, das Chaos ist vollendet. Das Volk und seine Anführer stehen in offenem Streit miteinander. Und auch Gott ist nachhaltig verärgert. Er will sogar das Projekt Israel noch einmal neu beginnen. Gott will jetzt aus Mosche und seinen Nachkommen ein neues Volk machen und das bestehende Volk vernichten. Wie konnte das passieren? Was soll jetzt werden?

Wir kennen die großen Ereignisse der Geschichte meist nur aus Büchern,die lange nach dem Geschehen geschrieben wurden. Die Historiker sind sich oft nicht einig, was wirklich geschehen ist und warum, aber es erzählt doch jeder die Geschichte so, dass das Ganze Sinn erhält und eine klare Entwicklung sichtbar wird.

Mit dem Brexit aber erleben wir heute Geschichte in Echtzeit. Es gibt viele Deutungen und viele Meinungen, aber letzten Endes weiß kein Mensch, was wirklich werden wird. Weder ist die Zukunft klar, noch kann man sich überhaupt darüber einigen, was bisher passiert ist. Jeder Tag bringt neue Entwicklungen und es wird noch lange dauern, bis man weiß, wie die ganze Geschichte letztlich ausgeht.

Gerade in einem solchen Moment lernen wir, die Erzählungen der Bibel besser und genauer zu lesen. Denn plötzlich sehen wir, dass es stets auch anders hätte ausgehen können. Dass jeder Moment seine Gefahren und seine Chancen mit sich bringt.

Für das Volk Israel ist das Ergebnis dieser Konflikte, dass die Krise vierzig Jahre andauert. Denn Gott entscheidet, dass dieses Volk noch nicht reif für das Land ist und eine ausführliche Zeit der Vorbereitung benötigt, bevor es ins Land Israel ziehen kann. Immerhin lässt er sich von Mosche ausreden, die radikalste Lösung zu verwirklichen und mit Mosche ein neues Volk anzufangen.

Wir lernen aber noch mehr, als nur die Offenheit der Geschichte in jedem einzelnen Moment. Was den Brexit vor allem so verwirrend macht, ist, dass keiner weiß, wem man trauen kann. Welche Fakten stimmen und was die verborgenen Interessen der jeweiligen Beteiligten sind, der Politiker, der Aktivisten, der Experten und aller Anderen. Es kommt auf die einzelnen Akteure an, die häufig handeln - handeln müssen - ohne die Konsequenzen ihres Tuns übersehen zu können.

So lernen wir auch auf eine zweite Art, die biblsichen Berichte genauer zu lesen. Hinter jedem Namen steht ein Mensch aus Fleisch und Blut mit Interessen und Gefühlen, stehen Familien und Gruppen mit ihrer kollektiven Geschichte. Die Propheten, Priester und Krieger, die Frauen und Männer der Bibel sind eben keine Marionetten eines sich wie von selbst abspulenden göttlichen Plans, sondern aktive Mitgestalter. Wenn wir heute Geschichte live erleben mit all der Ungewissheit, was werden wird, dann gewinnen wir einen neuen Blick auf die Spannung und Dramatik der biblischen Geschichte deren Ausgang eben noch nicht feststand, als sie geschah.

Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung des Radio Berlin Brandenburg, dort gesendet am 1. Juli 2016.  

26.06.2020 Artikelarchiv >>
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