hauptmotiv

ACHARE MOT

Reine Seele

Wer seine Vergehen bereut, erneuert sein Verhältnis zum Ewigen

Auslegung von Rabbiner Almekias-Siegl

In diesem Wochenabschnitt belehrt uns die Tora über die Heiligung und Reinheit. Es steht geschrieben: »Denn an diesem Tag erwirkt Er euch Sühne, um euch zu reinigen. Von allen euren Sünden sollt ihr vor dem Ewigen rein werden« (3. Buch Mose 16,30).

Welche Reinheit vor Gott ist hier gemeint? Der Rambam (1138–1204) ist der Meinung, der Mensch sei grundsätzlich nicht in der Lage, das Verständnis von Reinheit und Unreinheit in der Tora zu erfassen. Rabbi Jehuda Halevi (1075–1141) lehrt, dass jeder, der diesen Begriffen in der Tora nachgeht, zu der Erkenntnis kommt: Unreinheit entsteht dort, wo Leben vergeht oder vernichtet wird.

Zur stärksten Form von Unreinheit kommt es bei der Berührung eines Leichnams. Daraus ist zu schließen: Reinheit ist die Verbindung zum Leben. In der Mikwe gewinnen wir durch unser Reinwerden im fließenden Wasser die Verbindung zum Leben wieder zurück. Der Mensch erfährt nach dieser Reinigung auch eine Stärkung in seinem Verhältnis zu Gott – so wie geschrieben steht: »Ihr aber, die ihr dem Ewigen, eurem Gott, anhaftet, seid heute noch alle am Leben« (5. Buch Mose 4,4).

Frevel

Der Mensch, der sich durch eine Sünde vergangen hat, verliert einen Teil seiner Persönlichkeit, sie stirbt ihm gewissermaßen ab. Nicht umsonst schrieben unsere Weisen: »Die als Frevler leben, werden als tot betrachtet.« Wenn jemand sündigt, also die Kraft zur Selbstbestimmung und -beherrschung verliert, entfernt er sich von Gottes Ebenbild, mit dem der Ewige den Menschen ausgestattet hat. Der sündige Mensch entbehrt seiner gesammelten Kraft in den verschiedenen Bereichen seines Lebens. Er zerstreut sich.

Jom Kippur bietet dem Menschen die Möglichkeit, sich zu erneuern. Die Umkehr (Teschuwa) und die Sühne ermöglichen ihm, neue Kraft aus der Quelle seines Lebens zu schöpfen, die verloren gegangenen Energien seiner Seele dadurch zurückzugewinnen, dass er bewusst vor Gott tritt. Die erneuerte Verbindung mit seinem Schöpfer lässt den Menschen zu Jom Kippur wieder in den Fluss des Lebens und der Reinheit treten. So wie wir in Tehillim 103 lesen: »Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was Er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönt mit Gnade und Barmherzigkeit, der deinen Mund fröhlich macht und du wieder jung wirst wie ein Adler.«

Diese Verse führen uns ein eindrucksvolles Bild vor Augen, das uns die verheißene Erneuerung von Jom Kippur nahebringen kann: So wie ein Adler alte Federn fallen lässt und ihm neue wachsen, so steht der Mensch an diesem hohen Feiertag vor dem Herrn der Welt und reinigt sich von altem Ballast. Er wird wieder leicht und kann wie ein Adler abheben. Erneuert nimmt er in seinem Leben wieder Fahrt auf.

Trübung

Der Begriff »titaharu« – »reinigt euch« – lässt sich auch mit dem 2. Buch Mose 24,10 erklären. Es heißt dort: »... und wie der Himmel selbst so klar«. Demgegenüber manipuliert, verändert die Sünde das Ansehen des Menschen. Sie trübt es vor Gott, treibt einen Keil zwischen Geschöpf und Schöpfer.

Durch seine Umkehr reinigt sich der Mensch und beseitigt damit die durch die Sünde verursachte Trübung im Verhältnis zu Gott. Es ist wieder so klar, dass sich ein reiner Himmel darin spiegeln kann. Der Mensch ohne Fleck. Es geht also um eine wirkliche Tiefenreinigung, die die Seele wieder in ihr ursprüngliches Licht und Leuchten versetzt, das sie bei Gott einmal hatte, bevor sie durch die Sünde verdunkelt wurde.

Der Weg, den wir während der zehn Bußtage zwischen Rosch Haschana und Jom Kippur gehen, sagt Rabbiner Bar Schaul (1911–1964), entspricht genau dem Weg von der Teschuwa zur Reinheit. Diese ist größer und erhebender, sie übersteigt die Teschuwa. Die Reinheit beschreibt das erneuerte Zusammensein des Menschen mit seinem Vater im Himmel, die »reparierte« Verbindung, die vorher unterbrochen war. Durch die innere Reinheit kehrt die Seele zu ihrer Wurzel und Quelle zurück, zu Gott, ihrem Schöpfer.

Versöhnung

Rabbi Elazar ben Azarya (1. Jh. n.d.Z.) sagt: Sünden zwischen dem Menschen und Gott sühnt Jom Kippur. Aber Sünden zwischen Mensch und Mitmensch sühnt Jom Kippur erst dann, wenn ich selbst die Versöhnung mit demjenigen gesucht und zustande gebracht habe, an dem ich schuldig geworden bin.

Der Vers »denn an diesem Tag erwirkt Er euch Sühne« (3. Buch Mose 16,30) hat noch eine weitere Bedeutung: Durch diesen Tag wird gesühnt, durch seine Kraft. Jom Kippur zeichnet sich durch eine besondere Kraft aus. Sie liegt darin, dass der Mensch bewusst und ernsthaft vor Gott tritt. An diesem Tag entzieht sich der Mensch aller körperlichen Einflüsse und verwendet seine gesammelte innere Kraft darauf, sein Abgespaltensein von Gott zu überwinden. Dies reinigt und entsündigt ihn.

Jom Kippur ist ein herausragender Tag. An ihm wird nicht nur für diesen einen Tag Sühne erwirkt, sondern für das gesamte vergangene Jahr. Denn mit der aus Liebe vollzogenen Teschuwa werden Sünden in Rechte verwandelt. Dieser Tag schenkt dem Bußfertigen nicht allein das aus vergangener Zeit durch eigene Dummheit Verlorene wieder, Jom Kippur schenkt auch einen offenen Horizont, eine bessere Zukunft.

Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 30.04.2015.

17.05.2019 Artikelarchiv >>
Rabbiner & RabbinerinnenStrömungenPositionenBet DinPublikationenLinksImpressum
Bookmark für: Facebook
Home
logo der allgemeinen rabbinerkonferenz

© Allgemeine Rabbinerkonferenz
Meldungen

Pessach 5784 / 2024

Trotz der Ungewissheit

von Rabbinerin Elisa Klapheck

Was ist das Ziel? Der Auszug aus Ägypten bedeutete nicht nur den Weg heraus aus der Sklaverei. Genauso wichtig, ja sogar noch wichtiger war das Ziel – dass es überhaupt ein Ziel gab. Daran scheitern die...

Lesen Sie mehr...

Wie kommt ein Jude in den Himmel?


Paraschat Haschawua

MEZORA

Auslegung von Rabbiner Almekias-Siegl

Was die Haut offenbart

Zara’at steht für die Störung im sozialen, zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Miteinander

Der Abschnitt Mezora widmet sich Menschen, die von Aussatz befallen sind. Die Flecken, die den Körper eines Aussätzigen verunstalten, kommen nicht von ungefähr – so die Erklärung der Tora. Sie zeigt, dass der Kranke schlecht...

19.04.2024   Lesen Sie mehr...