hauptmotiv

MISCHPATIM

Das Wort "Glaube" trifft es nicht

Auslegung von Rabbiner Sievers

Es ist eine allgemeine Erkenntnis, dass im Judentum die Tat wichtiger ist als der Glaube. So rufen die Juden, wie wir in zwei Wochen in Paraschat Mischpatim lesen, von der Offenbarung G'ttes völlig übermannt, am Sinai aus: „Na-ase W'nischma“ (II. BM 24:7), „wir werden tun und wir werden hören“. Dem Hören, welches man in diesem Fall als „Glaube“ zu verstehen hat, geht die Tat voraus. Oder anders: Durch die Tat, durch die Beachtung der Mitzwoth, werden wir irgendwann auch G'tt erkennen. Sollten wir uns also mal in Situationen befinden, in denen es schwer ist, G'tt zu erkennen, schaffen wir es, durch das Halten der Gebote zu G'tt zurückfinden. Darüber hinaus besagt dieses Konzept, dass Glaube alleine nie ausreicht. Die Tat ist immer erforderlich.

Dies bedeutet jedoch nicht, dass Glaube etwas Unverzichtbares wäre. „Glaube“ ist allein schon eine schwierige Übersetzung für das Wort Emuna. Die eigentliche Übersetzung für Emuna ist Vertrauen. Manche Gebote halten wir nur, weil wir auf G'tt vertrauen, dass sie gut sind. So gehören die Speisevorschriften zu dieser Kategorie von Geboten, die wir nur beobachten (beachten?), weil wir auf G'tt vertrauen und nicht, weil es irgendeinen rationalen oder wissenschaftlichen Grund dafür gäbe.

In unser heutigen Parascha Beschalach lernen wir aber über noch ein wichtiges  Element: Jirat Shamajim, G'ttesfurcht. Nachdem die Juden aus Ägypten geflohen waren, indem sie trockenen Fußes durch das Schilfmeer liefen und hernach die ägyptische Armee im Meer versinken sahen, heißt es:
„Israel sah die große Macht, die der Ewige an Ägypten geübt; da fürchtete das Volk den Ewigen und glaubte an den Ewigen und an seinen Diener Mosche.“

Hier ist es nicht die praktische Tat, die der Emuna voraus geht, sondern die Gottesfurcht.

Dieses Wort hat zwei Bedeutungen: Zum einen kann G'ttesfurcht im Sinne von Furcht verstanden werden. Wir dienen also G'tt aus Angst vor Bestrafung. Demgegenüber steht aber die Aussage von Antigonos von Socho, der in den Pirke Avot (1:3) sagt: "Sei nicht wie ein Diener, der seinen Herren dient, um Lohn zu erhalten, und lass G'ttesfurcht auf." Hier wird mehr von der Ehrfurcht vor der Größe G'ttes gesprochen. Im Gegenteil, G'ttesfurcht und G'ttesliebe sind miteinander verbunden.

Weiter oben habe ich darauf hingewiesen, dass Glaube alleine nicht ausreicht, sondern immer mit der Tat verbunden sein muss. Liegt dann hier nicht ein Widerspruch vor, wenn man sagt, dass Jirat Shamajim die Grundlage von allem ist? Ich denke nein. Denn G'ttesfurcht ist nicht nur ein abstraktes Konzept. Man ist nicht nur einfach g'ttesfürchtig, sondern wenn man die Jirat Shamajim hat, wird dies  unweigerlich zur Tat führen.

So schreibt auch Rabbi Israel Salanter, dass die Gottesfurcht nicht nur die Bedingung für Emuna, also das allgemeine Vertrauen auf G'tt ist, sondern sie ist auch unverzichtbare Grundlage der Mitzvoth bejn adam l'chawero, der Gebote, die das zwischenmenschliche Miteinander regeln. So meint er, dass die erste Bedingung für die Vervollkommnung des Menschen die G'ttesfurcht sei. „Denn die Beobachtung der Gebote, die das Zwischenmenschliche regeln, können nicht bestehen, wenn sie nur auf menschlicher Grundlage basieren und nicht mit Vertrauen auf G'tt und mit reiner G'ttesfurcht verbunden wären.“ Würde man sich nur auf menschliche Kategorien verlassen, so Salanter weiter, würde man feststellen, dass sie der Realität nicht standhalten. Emuna ohne Jirat Shamajim führt dazu, dass sich der „Glaube“ nach den Bedürfnissen des Menschen mal dahin, mal dorthin entwickelt. Nur Jirat Shamajim kann dem eine Richtung verleihen. Deshalb wird in unserem Vers die G'ttesfurcht auch vor dem Glauben genannt.

Obwohl das Thema Gottesfurcht von heutigen jüdischen Denkern, im Gegensatz zum Mittelalter, nur selten behandelt wird, zieht sich dieses Thema durch unser gesamtes Gebetbuch. Deshalb scheint es mir ratsam zu sein, sich auch über dieses Thema einige Gedanken zu machen. Wir werden sicherlich feststellen, dass dann unser persönliches Verhalten ein anderes wird.

Shabbat Shalom


Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung des Norddeutschen Rundfunks, dort gesendet am 29. Januar 2010.

08.02.2019 Artikelarchiv >>
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