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JITRO

Die 10 Gebote sind nicht alles

Auslegung von Rabbiner Wolff

Das Judentum tut sich schwer mit den zehn Geboten in der Bibel. In der Synagoge wird viel weniger von ihnen geredet als in der Kirche. Ja, ich lese sie zwei Mal im Jahr vor im Synagogen-Gottesdienst, und das noch in einer besonderen Melodie. Aber eine außergewöhnliche theologische Bedeutung haben sie trotzdem nicht im Judentum. Denn das Judentum lehrt ja, dass es in den fünf Büchern Moses, im Judentum als die Thora bekannt, nicht nur zehn, sondern ganze 613 Gebote gibt – alle von dem großen Gelehrten Moses Maimonides im 12. Jahrhundert aufgezählt und nummeriert. Da das Judentum darauf besteht, dass sie alle von Gott stammen, so können wir sterblichen Menschen nicht einfach behaupten, dass diese zehn jene 20 wichtiger oder heiliger sind als der Rest der 603 oder 593 Gebote in der Thora.

Wer könnte denn behaupten, dass zum Beispiel das 10. Gebot – Du sollst nicht die Frau deines Nachbarn begehren, und seine schöne Wohnung auch nicht – wer könnte behaupten, dass dieses Gebot wichtiger oder heiliger ist, als zum Beispiel das Gebot, das uns verbietet, Bestechungsgelder anzunehmen.

Außerdem besteht das rabbinische Judentum noch darauf, dass das Gebot der Nächstenliebe – Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst – das erst im dritten Buch Moses steht, dass dieses Gebot das wichtigste Prinzip in der Thora, und daher im ganzen Judentum, verkörpert. Dazu kommt weiterhin, dass ein Gebot, den Fremden zu lieben wie dich selbst, nicht einmal, sondern 37 Mal in der Thora vorkommt. Aber in den zehn Geboten wird es kein einziges Mal erwähnt.

Als die zehn sind, wenn nicht beliebig, wenigstens unvollkommen, und wir Juden haben viel mehr Pflichten als nur die zehn.

Aber die Grundidee des Gebotes – im Gegensatz zum Vorschlag – ist lebenswichtig für uns persönlich und für unsere ganze Gesellschaft, und ganz besonders in diesem säkularen Zeitalter – einem Zeitalter, in dem wir persönliche Autonomie, den persönlichen Entschluss als Leitprinzip unseres Handels festgelegt haben. Somit haben wir das Gebot und das göttliche Gesetz zurückgestuft. Es ist ein Zeitalter, in dem oftmals sogar Laune das Pflichtgefühl verdrängt. „Ich habe heute keine Zeit, meiner alten Mutter frische Brötchen zu kaufen. Sie ist ja noch gut zu Fuß. Sie kann selber zum Bäcker gehen.“

Das ist persönliche Autonomie. Das ist völlig im Einklang mit säkularer Moralität.

Dem gegenüber steht in den zehn Geboten: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren – ob Du ein enges Verhältnis zu ihnen hast, oder nur ein lauwarmes. Du musst Dich um sie kümmern, ob es dir heute oder morgen passt oder nicht. Du musst  und du sollst – weil es Pflicht ist und nicht nur Wahl.

Eine Wahlgesellschaft, so wie die unsere, neigt eben auch gelegentlich zur menschlichen Kälte. Es kann eine Gesellschaft sein, in der man sich auf nichts und niemanden verlassen kann. Es ist eine Gesellschaft voller Unsicherheit.

Wenn mich jemand in der Straßenbahn mit Absicht schubst, wird jemand anderes da sein, der mich verteidigt, der sich um mich kümmert? Oder wird das Schubsen als gutes Recht, als die legitime Wahl des anderen betrachtet?

Eine Pflichtgesellschaft gibt unserem Leben ein tragfähiges Gerüst und verleiht uns eine gewisse Sicherheit und Berechenbarkeit. Ich weiß – und jeder von uns weiß, in welcher Gesellschaft es sich mit viel größerer Zuversicht lebt.

Darum bin ich froh, dass wir die zehn Gebote immer noch lesen. Denn das Prinzip der Pflicht und des Gebotes – und die zwei gehören zusammen wie Himmel und Erde – ist die Quelle aller Hoffnung für eine Zukunft mit Zuversicht.

Schabbat Schalom


Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung des Norddeutschen Rundfunks, dort gesendet am 10. Februar 2011.

01.02.2019 Artikelarchiv >>
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