WAJESCHEW
"Ich suche meine Brüder"
Auslegung von Rabbiner BrandtGekleidet in seinem hervorstechenden, gefärbten Streifenmantel, irrte der junge Josef in den Feldern außerhalb der Kanaaniterstadt Sch’chem. Im Auftrag seines Vaters Jakob war er nord-wärts gezogen, um sich nach dem Befinden seiner Brüder und ihrer Herden zu erkundigen. Aber diese waren weitergezogen, und nun stellte sich Josef die Frage, wo er sie nun finden könnte. Da sprach ihn ein Mann an – die Bibel lässt ihn namenlos – und fragte ich, wen oder was er suche. Josef antwortete: „Et Achai anochi mevakesch“. „Ich suche meine Brüder“.
Oberflächlich betrachtet wäre der Wortwechsel belanglos. Ein junger Mann sucht seine Brüder. Er erfährt hilfreiche Auskunft, die ihm den richtigen Weg weist. In Dotan findet er dann seine Brüder. Aber findet er dort seine Brüder? Ja, denn es sind die Söhne des gleichen Vaters. Sie vermögen es nicht, ein nettes Wort mit ihm zu wechseln, erinnern sich immer, er lässt es sie ja nicht vergessen, an die Verleumdungen, die er gegen sie beim Vater vorbringt, oder die über-heblichen Träume, die auf seine zukünftige Herrscherrolle über seine Eltern und Brüder aus-gerichtet sind.
Sind diese hassenden Menschen Brüder? Fühlen sie, verhalten sie sich, wie es unter Brüdern üblich ist?
Wenn Josef seine Brüder sucht, spricht aus seinen Worten nicht eine betrübte Verständnislosigkeit, die nach Wegen tastet, den Abgrund zwischen sich und den anderen zehn zu überbrücken?
Josef, so wissen wir aus der Erzählung seines weiteren Lebens, war weder unintelligent, noch gefühllos, noch mangelte es ihm an Sensibilität. Er liebte seinen Vater, aber er liebte auch seine Brüder, wie er es ja später in reichem Maße beweisen wird. Aber seine Träume waren zu überwältigend, zu sehr hineingewoben in die Wirklichkeit seines Bewusstseins, als dass er sie vor denen, die ihm am liebsten waren, verheimlichen konnte.
Viele von uns werden sich von der Problematik, die sich uns in der Antwort Josefs darstellt, persönlich angesprochen fühlen. Ob im engeren Umfeld der Familie oder auch in der weiteren Gesellschaft. Die Suche nach wahrer, empfundener Brüderlichkeit ist meistens gegenwärtig. Es ist einfach die Frage nach dem Umgang miteinander. Wie oft verbauen uns die mannigfaltigen Untugenden, die und zueigen, den Blick auf den Bruder, die Schwester natürlich mit einbezogen.
Die verzerrende Brille der Gehässigkeit, des Egoismus, der Habgier, der Rivalität, die Liste ließe sich beliebig verlängern, vermittelt uns Bilder, die den Samen der brüderlichen Zuneigung im Keim ersticken lassen.
„Ich suche meine Brüder“ ist gerade in unserer hochspezialisierten und fragmentierten Gesellschaft, in der selbst die Solidarität bürokratisiert und anonymisiert wird, ein Aufschrei vieler einsamer Menschen, die im Gewühl der hastenden Menschen, und durch das Surren und Piepsen der Computer, keinen Bruder finden können. Keine Hand, die sich als Ausdruck der Zuneigung und des Verständnisses ihnen entgegen streckt. Inmitten unseres reglementierten und enthumanisierten Wohlstandes sucht der Mensch verzweifelt seinesgleichen, den anderen Menschen als Bruder.
Ich entbiete Ihnen, meine lieben Zuhörer, den Gruß des Schabatfriedens: Schabat Schalom.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Norddeutschen Rundfunks, dort gesendet am 26.11.2010
07.12.2018 Artikelarchiv >>
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