hauptmotiv

WAJIGASCH

Den ersten Schritt wagen

Auslegung von Rabbinerin Deusel

Aufmerksam hört Josef die Rede von Jehuda. Schon mehrmals hatte Josef Gelegenheit, den Brüdern zu sagen, wer er ist. Doch er tut es nicht. Stattdessen hat er eine Art Katz-und-Maus-Spiel mit ihnen begonnen.

Warum macht er das? Die traditionellen Auslegungen besagen, Josef habe seine Brüder auf die Probe stellen wollen. Und erst als er gesehen habe, wie sie sich um den alten Vater und ihren jüngsten Bruder Benjamin sorgen, habe er erkannt, dass die Brüder nunmehr in Liebe und gegenseitiger Rücksicht zueinander stehen, also Familiensinn entwickelt haben.

Entwicklung

Josef hat kaum damit gerechnet, seine Brüder jemals wiederzusehen – und er dürfte auch kein allzu großes Verlangen danach verspürt haben. Eine lange Zeit ist vergangen, und aus dem verwöhnten und reichlich naiven Jugendlichen ist ein selbstbewusster, geachteter Mann geworden, durch die harte Schule des Lebens: vom Sklaven zum zweiten Mann im Staat.

Aus Josefs Bitterkeit über sein Schicksal ist längst die Gewissheit geworden, dass G’tt ihn auf diesem Weg geführt hat, weil er eine große Aufgabe zu erfüllen hat: die Rettung vieler Menschenleben. Das hat Josef, der einst so stolz von seinen Träumen erzählte, aber nicht etwa hochmütig gemacht, sondern ganz im Gegenteil: Bescheiden, umsichtig, gewissenhaft versieht er sein hohes Amt, geachtet vom Pharao, geehrt vom Volk. Und offenbar ist er auch beliebt. Aber der Stachel bleibt: dass es gerade seine Brüder waren, die ihn einst den Sklavenhändlern auslieferten.

Und mit einem Mal stehen sie vor ihm, als Bittsteller. Mehr als 20 Jahre ist es her, seit sie ihn zuletzt gesehen haben, und sie erkennen ihren Bruder Josef in dem intelligenten, gut aussehenden, nach ägyptischer Mode gekleideten hohen Würdenträger nicht wieder.

Doch Josef erkennt sie sofort. Es muss wie ein Schock für ihn sein. Sein erster Impuls ist Abweisung: Er stellt sich fremd gegen sie und redet hart mit ihnen (1. Buch Mose 42,7). Er beschuldigt sie, Spione zu sein, und lässt sie einsperren. Offensichtlich ist er aber ziemlich ratlos, was er mit ihnen tun soll.

Schon bald lässt er sie wieder frei, und sie dürfen Ägypten verlassen, nur Schimon behält er zurück. Josef hat den Brüdern aufgetragen, ihm Benjamin zu bringen, dann wird er Schimon freilassen.

Vermutlich rechnet er nicht damit, dass die Brüder wiederkommen, schon gar nicht mit Benjamin. Es wäre auch zu schön gewesen, den kleinen Bruder, der inzwischen längst erwachsen ist, wiederzusehen.

Bestimmt hat Josef den weiteren Verlauf nicht von Anfang an geplant. Das zeigt seine Reaktion, als die Brüder tatsächlich wiederkommen und auch Benjamin mitbringen. Josef reagiert zuerst abwehrend und bitter, dann ratlos. Doch schließlich spürt er den Wunsch, auf die Brüder zuzugehen. Vermutlich gesteht er sich diesen Wunsch zunächst nicht ein, aber er ist da, der Wunsch.

Zaghaft wagt Josef eine Annäherung – erst mit der heimlichen Rückgabe des Kaufpreises für das Getreide, dann mit einem großen festlichen Essen. Aber noch einmal weicht er zurück vor einer Versöhnung, beschuldigt die Brüder des Diebstahls. Die Worte, die er wählt, klingen so, als wollte er sie nicht dieses vorgetäuschten Vergehens bezichtigen. Eher scheint es, er habe ein ganz anderes Verbrechen im Sinn, als er mit ihnen redet, nämlich das Verbrechen, das sie damals an ihm begangen haben, vor mehr als 20 Jahren.

Josefs Gemüt ist in heftigem Aufruhr. Da sind sie, die gemeinen Übeltäter, ihm ausgeliefert. Und doch: Da sind sie, seine Brüder, alle miteinander: seine Familie, die er längst abgeschrieben hatte. Er möchte so gern die Hand ausstrecken – nicht gegen sie, sondern ihnen entgegen – und weiß doch nicht recht, wie er es machen soll, und ob überhaupt. Wer weiß denn, ob sie ihm gegenüber vielleicht noch genauso eingestellt sind wie früher. Das könnte er nicht ertragen. Lieber auf eine Versöhnung verzichten als zurückgewiesen werden, denkt Josef.

Doch da spricht Jehuda zu ihm, hält ein leidenschaftliches Plädoyer – und schlagartig begreift Josef: Nein, sie sind nicht mehr so wie früher. Sie werden ihn nicht zurückweisen.

Josef schickt seinen ganzen Hofstaat hinaus. Dieser Moment gehört nur ihm – ihm und seinen Brüdern, die er wiedergefunden hat, im doppelten Sinn des Wortes. Er lässt es zu, dass die Gefühle ihn überwältigen. Er streckt den Brüdern die Hand zur Versöhnung entgegen, nicht mit wohlgesetzten Worten, sondern in einem heftigen Gefühlsausbruch.

Ein eisiger Schrecken überkommt die elf Brüder in diesem Moment, vor allem die zehn älteren. Sie haben ihre eigenen Gründe, die sie zunächst hemmen, auf ihren verloren geglaubten Bruder zuzugehen und die zum Frieden ausgestreckte Hand anzunehmen. Schließlich tun sie es doch, und die Familie ist, als am Ende noch Vater Jakow dazukommt, nach so vielen Jahren wieder vereint.

Unrecht

Die Geschichte ist so alt wie die Menschheit – und so aktuell wie nur je: ein großer Streit, ein unüberwindlich erscheinender Riss in einer Familie, entstanden durch begangenes oder vielleicht auch nur eingebildetes Unrecht. Zwei Parteien, die unversöhnlich scheinen. Vielleicht sind sie gar nicht so unversöhnlich, vielleicht wünschen sie sich nichts sehnlicher als eine Versöhnung.

Doch keiner will den ersten Schritt tun: weil jeder sich selbst im Recht sieht; weil jeder sich fürchtet, zurückgewiesen zu werden; weil keiner weiß, wie er dem anderen begegnen soll.

Versöhnung ist niemals leicht, es gibt kein Patentrezept. Aber eines ist unerlässlich, wenn sie erreicht werden soll: Einer muss den ersten Schritt auf den anderen zu gehen. Und der andere muss seinerseits den zweiten Schritt machen.

Vielleicht müssen beide dafür über ihren Schatten springen – aber nur so kann es wieder ein Miteinander geben. Vergessen wir nicht: Der Stärkere ist nicht der, der im Streit verharrt (und mag er sich auch noch so sehr im Recht glauben). Der Stärkere ist der, der aufrichtig die Versöhnung sucht.



Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemienen, dort erschienen am 05.01.2017.


21.12.2018 Artikelarchiv >>
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