hauptmotiv

WAJERA

"Tu dem Knaben nichts!"

Die Geschichte von der Bindung Jizchaks zeigt, dass Gott keine Menschenopfer will

Auslegung von Rabbiner Ronis

Eine chassidische Geschichte erzählt von einer Begebenheit, die einst Rabbi Schneur Salman (1745–1812), ein Schüler des Rabbi Dow Bär von Mesritsch, hörte. Es war damals nicht selbstverständlich, Schüler des chassidischen Meisters Dow Bär zu werden. Und so wurde es Brauch, sich dem Meister als Diener zur Verfügung zu stellen. Manche boten sich als Wasserträger an, andere sorgten für das wärmende Ofenfeuer im Winter.

Die Geschichte erzählt von drei Dienern, die sich über die Akedat Jizchak, die Bindung Jizchaks, unterhielten. Der Erste sagte: »Was war das Besondere an der Prüfung der Akeda? Wenn Gott sich mir offenbart und befohlen hätte, meinen einzigen Sohn zu opfern, würde ich dann etwa nicht gehorchen? Wenn Gott mir sagen würde, ich soll meinen einzigen Sohn opfern, würde ich versuchen, es hinauszuzögern, wenigstens um ein paar Tage. Awrahams Größe bestand darin, dass er früh am Morgen aufstand, um den göttlichen Befehl sofort auszuführen.«

Sagt der Zweite: »Wenn Gott mir befehlen würde, meinen einzigen Sohn zu opfern, würde ich nicht einen Moment warten, seinen Befehl auszuführen. Aber ich würde es schweren Herzens tun. Awrahams Größe bestand darin, dass er diese Aufgabe voller Freude erfüllte.«

Sagt der Dritte: »Ich würde Gottes Willen auch voller Freude erfüllen. Ich denke, Awrahams Einzigartigkeit liegt in seiner Reaktion, als er herausfand, dass es ein Test war. Awraham war nicht überglücklich darüber, weil sein Kind nun nicht sterben würde, sondern weil er die Möglichkeit bekommen hatte, einen weiteren Befehl Gottes auszuführen.«

Dienst

Rabbi Schneur Salman folgerte aus dieser Unterhaltung, dass es sich nicht nur um bloßes Gerede der Diener handelte. Vielmehr habe jeder von ihnen durch seine Aussage den eigenen Grad der Opferbereitschaft im Dienste des Ewigen dargestellt.

Die Bindung Jizchaks ist einmalig in der Tora. Die unbeschreibliche und unendlich schwere Aufgabe, die Gott einem Elternteil aufbürdete, ist ein bemerkenswerter Einschnitt, eine Prüfung, die ihresgleichen sucht.

Warum muss ein Mensch von Gott geprüft werden? Weiß Er nicht alles über diesen Menschen, ja über alle Menschen? Ist Er nicht derjenige, der uns erschaffen hat und verstehen kann, wie wir handeln, was wir tun?

Anscheinend ist die Beantwortung dieser Frage nicht ganz so einfach. Das merken wir jedes Mal, wenn wir den Wochenabschnitt Wajera lesen, der von der Bindung Jizchaks berichtet.

Die Weisen und Gelehrten unseres Volkes haben über die Jahrhunderte versucht, eine Erklärung für diese fast schon unmögliche und unmenschliche Aufforderung zu finden. Herausgekommen sind dabei einige interessante Ansätze, die das Handeln und Fordern Gottes erklären.

Stärke

Der Rambam, Maimonides (1135–1204), sieht in der Forderung Gottes eine Prüfung für Awraham. Seiner Meinung nach weiß Gott ganz genau, dass Awraham diese Prüfung bestehen wird und damit allen Völkern und Nationen ein leuchtendes Beispiel ist für alle Zeit. Diese Prüfung rückt also nicht Awraham in den Vordergrund, sondern sie demonstriert seine Stärke.

Franz Rosenzweig (1886–1929) sieht Awrahams Prüfung in einem anderen Licht. Der Mensch ist nach Rosenzweig keine Marionette, denn sonst wäre immer der furchtsamste, der unfreiste und ängstlichste der größte Gottesdiener auf der Welt. Da dem aber nicht so ist und Gott immer einen freien Diener bevorzugt, muss selbst Er in diesem Fall tief in die Trickkiste greifen, um einen wahren Gläubigen herauszufiltern und den wahren Weg des Gerechten und Frommen herauszukristallisieren.

Die Probe, auf die der Mensch gestellt wird, ist keine leichte. Manchmal basiert sie sogar auf Fehlleitungen und Täuschungen. Doch sie dient dazu, einen Glauben in Vertrauen und Freiheit aufzubauen.

Wenn wir heute von Opfern sprechen, so sind Gebote und Gebete gemeint, die wir dem Ewigen jeden Tag darbringen. In der Antike war das völlig anders. Damals wurden Lebewesen geopfert, und es war gängige Praxis, auch Menschen zu opfern.

Und so kommen wir zu Awrahams großem Dilemma: Er lebte in einer Zeit, in der Menschenopfer üblich waren. Folglich war also Gottes Forderung, Jizchak zu opfern, für Awraham völlig legitim. Sonst hätten wir von ihm Einwände gehört, er hätte mit Gott verhandelt, wie er es vor der Zerstörung von Sodom und Gomorrha tat. In der Erzählung von der Akedat Jizchak lesen wir nichts davon. Kein Wort kommt über Awrahams Lippen.

Zäsur

Klar wird jedoch eines: Diese Versuchung, diese Prüfung Awrahams stellt eine klare Zäsur dar. Sie wirft die wichtige Frage auf: Wie weit können der Glaube und die Treue eines Menschen in der Beziehung zu Gott gehen, wenn Gott ein Menschenopfer verlangt? Kann Er uns wirklich so etwas befehlen?

Auf der einen Seite wird Gehorsam ohne Zögern und ein vollständiges Vertrauen von Awraham vorausgesetzt, auf der anderen Seite wird hier uns Menschen Gottes Wille offenbart.

Es muss nicht betont werden, dass Awraham seine Prüfung tapfer bestanden hat. Natürlich kann man ihm vorwerfen, dass er seinen Sohn opfern und dadurch zu einer Praxis zurückkehren wollte, die zum Götzendienst seiner Vorfahren gehörte. Doch vielleicht wusste er es nicht besser. Und überhaupt: Wie hätte sich ein Mensch dem Willen des Schöpfers der Welt widersetzen können? Manche mögen jetzt einwenden, es sei Awrahams menschliche Pflicht gewesen, die Anweisungen Gottes infrage zu stellen. Er hätte seinen freien Willen demonstrieren und mit Gott verhandeln müssen. Aber vielleicht hat Awraham eine ganz andere Lehre aus der Tragödie gezogen.

Denn was hier in den Vordergrund tritt, ist nicht die moralisch fragwürdige Art und Weise, wie Awraham reagiert, sondern es ist vielmehr eine Offenbarung des göttlichen Willens: dass Er, Gott, Menschenopfer nicht will und nie wollte.

Tragödie

Somit ist es der Mensch, der als Gewinner aus der Tragödie herausgeht. Das ist eine der wichtigsten Lehren, die wir seinerzeit erhalten haben und die auch heute noch ihre volle Gültigkeit entfaltet: Das Leben hat den höchsten Stellenwert!

Damals war es das Menschenopfer, das dadurch unter Verbot gestellt wurde. Heute ist es das Märtyrersein, das wir durch diese Lehre ablehnen. Gott will und wollte das menschliche Opfer nie. Vielmehr ist und war Ihm die Einsicht eines jeden Einzelnen wichtig. Denn dienen können wir Gott nur durch unseren freien Willen, unsere Freiheit und unseren Verstand – und zwar lebendig!


Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 17.11.2016.


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