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EKEW

Weil wir selbst Fremde waren

Unsere Geschichte verpflichtet uns, Flüchtlingen zu helfen – auch wenn es nicht immer leichtfällt

Auslegung von Rabbinerin Ederberg


Befreit aus der Sklaverei, einer unerträglichen Lebenssituation entkommen, eilig aufgebrochen, mit minimaler Wegzehrung und improvisiertem Gepäck, vielleicht noch ein paar wichtige Erinnerungsstücke im Rucksack, wochenlang unterwegs, ohne genau zu wissen, wohin, ein »gelobtes Land« vor Augen, von dem man gehört hat, dort sei man willkommen und dort würden Milch und Honig fließen.

Ein lebensgefährlicher Weg über das Meer, und immer wieder Zwischenstationen, wo man für ein paar Tage ein Dach über dem Kopf hat, notdürftig eingerichtet, nur um dann wieder weiterzuziehen. Was wie eine Beschreibung der aktuellen Flüchtlingsströme in Richtung Deutschland klingt, könnte genauso gut eine Beschreibung der Wanderung der Kinder Israels aus Ägypten in die Freiheit sein – oder eine Beschreibung aus der Zeit des Nationalsozialismus, wenn jüdische Flüchtlinge von Land zu Land irrten, weil sie immer wieder abgewiesen wurden.

Wieder und wieder betont die Tora: Dass wir Flüchtlinge waren und Gott uns gerettet hat, verpflichtet uns, andere in unserer Mitte aufzunehmen. Im 2. Buch Mose 23,9 heißt es: »Den Fremden sollst du nicht unterdrücken, denn ihr kennt das Leben der Fremden, weil ihr selbst Fremde wart in Ägypten.«

Verantwortung

Jedes Mal, wenn wir Kiddusch machen, sei es am Schabbat oder an den Feiertagen, tun wir das als »Secher le-jeziat Mizrajim«, als Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Denn es gehört zusammen: unsere Identität als Jüdinnen und Juden, dass wir unsere Feste feiern, und dass wir Verantwortung für Fremde und Flüchtlinge übernehmen.

Was das für jeden von uns im Einzelnen bedeutet, kann nur jeder und jede selbst entscheiden: Wo die eigenen Fähigkeiten liegen und wie sie am besten eingesetzt werden können, ist dabei die entscheidende Frage.

Wenn wir zu Sukkot in den geschmückten Laubhütten in unseren Synagogen, Gemeindehäusern, Hinterhöfen oder auf unseren Balkonen sitzen, geht es genau darum: »Sieben Tage sollt ihr in Laubhütten wohnen, … damit eure Nachkommen erfahren, wie ich die Kinder Israels in Hütten habe wohnen lassen, als ich sie aus Ägypten führte. Ich bin der Ewige, euer Gott.«

Schmuck

Von der Arbeit mit Flüchtlingen habe ich dieses Jahr etwas für Sukkot gelernt: Ich fand es eigentlich immer seltsam, warum wir uns so viel Mühe machen, die Sukka schön zu schmücken – wo sie doch das Symbol für eine provisorische Behausung auf der Flucht, während der Wüstenwanderung, sein soll.

Natürlich weiß ich, dass wir uns immer bemühen, eine Mizwa besonders schön auszuführen: Wir haben möglichst besonders schöne Kerzenleuchter und Kidduschbecher für Schabbat, wir schmücken unseren Feiertagstisch, und vieles mehr. Aber die Sukka, das Symbol der Flucht? Doch dieses Jahr habe ich es verstanden: Gerade auf der Flucht, in der Notaufnahmestelle, in der Sammelunterkunft, wo man nur ein Bett für sich alleine hat, sind kleine Dinge wichtig, um Hoffnung zu schöpfen, um den Mut nicht zu verlieren.

Eine Freundin, die als Ärztin Notdienst in einer Aufnahmestelle machte, hat mir berichtet, wie angespannt, ja fast schon aggressiv die Stimmung unter den Menschen war, die stundenlang im Hof warten mussten, ohne zu wissen, wie es weitergeht, erschöpft, hungrig und ohne Orientierung.

Und wie sich dann – wie durch Zauber – die Stimmung unter diesen Hunderten von Menschen änderte, als freiwillige Helfer anfingen, Wasser und Obst zu verteilen, nicht als Teil der normalen Abläufe, sondern erkennbar als etwas Zusätzliches, Geschenktes: ein Hauch von normalem Leben. Und als wir mit Kindern aus der Jüdischen Grundschule vor einiger Zeit einen Bastelnachmittag in einer Notaufnahme organisiert haben, war das vielleicht nicht das Allerdringendste – aber die entstandenen kleinen Kunstwerke wurden sofort als Schmuck in der Cafeteria aufgehängt, sodass alle sich daran erfreuen konnten.

Traumata

Es sagt sich so leicht, wir sollen aus der eigenen Verfolgungserfahrung lernen für die anderen, doch das ist schwer: Wem Gewalt angetan wird, der wird oft selbst gewalttätig, wer traumatisiert ist, ist oft gerade eben nicht in der Lage, seinerseits zu helfen. Traumata werden an die Kinder, die nächste Generation, weitergegeben, durch Schweigen, durch den Verlust des Lebensmutes, durch die Unfähigkeit, neuen Beziehungen und der gewonnenen Sicherheit irgendwie zu vertrauen.

Woher nehmen wir also die Orientierung, die Kraft, mit anderen anders umzugehen, als wir es selbst erlebt haben? Realistisch müssen wir sagen, dass dies in vielen Fällen nur schwer möglich ist, dass viel Zeit und therapeutische Hilfe nötig ist – und es auch dann keine Garantie für ein Gelingen gibt. Aber gleichzeitig gibt es Gegenbeispiele der Hoffnung: dass Menschen aus der eigenen Erfahrung lernen, dass sie die erlebte Gewalt überwinden und sich der neuen Wirklichkeit öffnen können.

Gelingen kann das dann, wenn wir einen inneren Kompass haben, dem wir vertrauen können, wenn wir wissen, was Recht ist. Die Tora drückt das so aus (und ein Teil dieses Textes ist Teil des täglichen Gebetes, der Amida, geworden): »Der Ewige ist der große, starke, furchtbare Gott, der keine Bestechung nimmt, der Waisen und Witwen Recht schafft, den Fremden liebt und ihm Brot und Kleidung gibt. Liebt den Fremden, denn Fremde wart ihr in Ägypten« (5. Buch Mose 10, 17ff). Das ist die Richtschnur, an der wir uns orientieren sollen und können – und niemand hat uns versprochen, dass das einfach sei!


Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 25.09.2015.


10.08.2018 Artikelarchiv >>
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