hauptmotiv

KORACH

Demokratie und religiöse Verantwortung

Auslegung von Rabbinerin Elisa Klapheck

Der Abschnitt „Korach“, den wir an diesem Schabat lesen, ist ein Meisterstück an moderner politischer Lehre. Es geht um die Gefahr, dass sich die Demokratie mit demokratischen Mitteln aushebeln lässt. In der Wüste erhebt sich die Rotte Korachs gegen Moses und Aaron.

„Zuviel für euch!“ rufen die Söhne Korachs Moses und Aaron zu. „Denn die ganze Gemeinde sind allesamt Heilige, unter denen der Ewige ist, und warum erhebt ihr euch über die Versammlung des Ewigen?“ (Num. 16. 3)

Der Aufruhr greift schnell um sich. Auch die Familien von Datan und Abiram schließen sich an. Moses bekommt zu hören:
„Ist es zu wenig, dass du uns heraufgeführt hast aus einem Lande, das von Milch und Honig fließt, uns in der Wüste zu töten, dass du dich noch zum Herrscher über uns aufwirfst?“ (Num. 16:13)

250 berufene Männer mitsamt ihren Familien wagen den Aufstand. Es kommt zu einem Kräftemessen anhand von konkurrierenden Opferkulten. Gott soll entscheiden, wer erwählt ist. Die Geschichte endet damit, dass sich ein Abgrund in der Erde auftut:
„Und sie, und alle die Ihrigen sanken lebend in die Gruft, und die Erde bedeckte sie und sie verschwanden aus der Versammlung.“ (Num. 16:33)

Ist die Geschichte von der Rotte Korachs nur eine Mahnung an die Israeliten, den gebotenen Gehorsam gegenüber ihren Führern Moses und Aaron zu wahren?

Der moderne Demokrat müsste durchaus Korach folgen. Dessen Argumente erscheinen zunächst einleuchtend. Sind nicht alle in der Gemeinde Israel gleichermaßen heilig? Wer sind Moses und Aaron, dass sie sich über die ganze Gemeinde stellen? Was autorisiert sie? Ist nicht der Ewige unter allen Israeliten, und sind damit nicht alle gleichermaßen autorisiert? Alle gleich wertig – weil gleich heilig?

Von einem anthropologischen Gesichtspunkt aus gesehen, ringen in der Tora zwei gesellschaftspolitische Modelle miteinander. Das Modell der hierarchischen Religion – und das der egalitären Religion.

Beide Modelle haben Vor- und Nachteile.

Eine hierachische Religion ist zentralisiert, kennt nur ein einziges Heiligtum, den Tempel in Jerusalem, in dem eine nach Rängen organisierte Priesterschaft den Kult praktiziert. Eine hierarchische Religion zelebriert die Ränge. Sie feiert die Einweihung des Hohepriesters in sein Amt, seine Einkleidung - das Umlegen seiner Robe, seines Brustschildes, seiner Kopfbedeckung als die repräsentativen Insignien seines Amtes - ebenso wie die aller niederen Priester in ihre jeweiligen Funktionen. Die Ordnung als solche ist dasjenige, das die Gemeinschaft zusammenhält. Das Amt des Priesters ist weitgehend repräsentativ und spiegelt die Ordnung wieder.

Eine hierarchische Religion hat den Vorteil, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft weiß, welchen Platz es einnimmt. Potentielle Konflikte zwischen einzelnen Priestern sind durch die Stabilität des Gefüges eingeschränkt. Das Individuum hat wenig Spielraum. Seine Aufgabe besteht darin, eine repräsentative Funktion auszuüben. Und für alle ist klar, bei wem die Autorität liegt, wer welche Entscheidungen treffen darf.

Daneben bietet die Hebräische Bibel jedoch das Modell einer egalitären Religion. Sie drückt sich in der Erwählung des ganzen Volkes Israel aus. Alle – Männer, Frauen und Kinder – haben die Offenbarung am Berg Sinai erfahren. Alle haben die geoffenbarten Gesetze gleichermaßen angenommen. Allen hat Gott aufgetragen, eine „Priesternation“ zu sein. Alle sind gleichermaßen erwählt und zum „heiligen Volk“ zugehörig.

Eine hierarchische Religion kämpft mit der Gefahr der Erstarrung. Eine egalitäre Religion kämpft dagegen mit einem strukturellen Autoritätsproblem. Wenn jeder sein eigener Priester ist und alle gleichermaßen zur „Priesternation“ gehören – wer repräsentiert dann die Gemeinschaft? Und mehr noch: Was hält die Gemeinschaft zusammen? Von diesen Fragen handelt der Abschnitt „Korach“ im 16. Kapitel des Buches Numeri. Korach übt den Aufstand im Namen einer egalitären Religion.

Obwohl Elemente von beiden Modellen – der hierachischen und der egalitären Religion – in der Hebräischen Bibel vorhanden sind, tendiert das Judentum schlussendlich zum egalitären Modell. Das kathartische Urerlebnis der israelitischen Nation ist der Auszug aus der Sklaverei, aus der hochhierarchisierten ägyptischen Gesellschaft. Die Antwort der Hebräischen Bibel auf die ägyptische Erfahrung heißt: Alle Menschen sind gleich vor Gott. Deshalb sollen alle Israeliten gleich heilig, gleichermaßen erwählt sein, und alle gleichermaßen die Gesetze der Heiligkeit lernen und praktizieren.

Aber damit sind wir auch beim Problem der heutigen, modernen Demokratie angelangt. Wenn alle gleiche Rechte haben, sind Macht- und Führungsfragen niemals ganz geklärt, können alle um die Macht mitkonkurrieren, kann jede menschliche Autorität in Frage gestellt, jede gute Absicht von Politikern hintertrieben, jede Bemühung von der Gegenpartei vereitelt werden. Die gleichen Rechte für alle schlagen in Verantwortungslosigkeit um.

Die Hebräische Bibel ist sich dieses Problems sehr wohl bewusst. Das Kapitel über den Aufstand Korachs beschreibt es. Die einzige Antwort darauf kann nur eine politische Kultur sein, die denjenigen, die gesellschaftspolitische Verantwortung auf sich nehmen, konstruktiv zuarbeitet, statt ihnen das Handwerk zu legen. Wenn alle gleich heilig sind, dann bedeutet dies, dass allen die Verantwortung ein gleichermaßen heiliges Gut sein muss. Insofern ist das Kapitel Korach ein direkter Kommentar auf manche Stagnation auch im heutigen politischen Geschehen.

Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung des Norddeutschen Rundfunks, dort gesendet am 07.06.2013.

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