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EMOR

Modernes Rechtsverständnis

Auslegung von Rabbinerin Gesa Shira Ederberg

„Ein Mensch, der einen anderen verletzt. So wie er getan hat, so soll mit ihm geschehen „Auge um Auge, Zahn um Zahn“.

Es gibt wohl keine andere Stelle in der Tora, die heute einen so starken negativen Reflex auslöst, wie dieses sogenannte ‚lex talionis‘. Hier entspricht die dem Täter zugedachte Strafe genau dem von ihm angerichteten Schaden. Das, was dem Gerechtigkeitsempfinden Vieler zu allen Zeiten entsprochen hat, wird in der modernen und aufgeklärten Gesellschaft als archaische Barbarei empfunden.

Schon die jüdische nachbiblische Tradition hat diese Art der Bestrafung nicht akzeptiert und auch nicht angewendet. So heißt es in der Mischna im Traktat Baba Kamma, dass jemand, der einen Menschen verletzt hat, für fünf Dinge verantwortlich ist: Schaden, Schmerz, Heilung, Zeitverlust und seelischen Schmerz. Dafür hat er aufzukommen und durch diese Leistungen wird für Gerechtigkeit gesorgt. Die antike Diskussion dieser Mischna fragt direkt, ob wirklich gemeint sei, der Täter müsse ein Auge verlieren, wenn er jemand anderem den Verlust eines Auges verursacht hat. Die Antwort ist ‚Nein‘! Er soll Schadenersatz leisten. Nur Mörder sollen mit ihrem Leben bezahlen. Auch im Mittelalter wurde diese Linie fortgesetzt. Schadenersatz statt Erleiden des gleichen Schadens ist die Regel. So sieht es etwa Maimonides in seinem Gesetzbuch ‚Mischne Tora‘.

Obwohl also die Interpretation dieses biblischen Gesetzes durch die jüdische Tradition der vergangenen zweitausend Jahre vom wörtlichen Verständnis abgekommen ist und im Ergebnis den Wünschen des modernen und aufgeklärten Menschen entspricht, sollten wir doch noch einmal versuchen, das biblische Gebot zu verstehen.

Der Reiche kann sich den Schadensersatz ohne Probleme leisten, der Arme aber, der kein Geld hat, wird in die Sklaverei verkauft. Auch heute ist die Gleichheit vor dem Gesetz ein Grundsatz unserer Rechtsordnung, der für diejenigen, die sich teure Anwälte leisten können, oft nicht der Realität entspricht. Der biblische Grundsatz ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ kann auch als Protest gegenüber einer Klassenjustiz empfunden werden, die eben nicht gleiches Recht für Alle verfolgt.

Dass die biblische Regel so negativ gesehen wird, hat seinen Ursprung übrigens im Neuen Testament, wo „dem anderen die Wange hinhalten“ als Gegensatz formuliert wird. Dort geht es aber um etwas völlig anderes: Es geht nicht um ein Rechtssystem, sondern um das zwischenmenschliche Verhalten. Gerade weil der Grundsatz „die andere Wange“ nie zu einer Rechtsnorm geworden ist, wurde auch das biblische ‚Auge um  Auge‘ nicht als eine Rechtsnorm verstanden, sondern als eine Aussage über den sogenannten „alttestamentarischen Rachegott“ – eine Formulierung, die sich auch in aktuellen Tageszeitungen findet.

Eine angemessenere Übersetzung schlagen Martin Buber und Franz Rosenzweig vor, sie sprechen von ‚Augersatz um Auge, Zahnersatz um Zahn‘ – womit wir tatsächlich im Bereich des modernen Rechtsverständnisses von Schadenersatz und Schmerzensgeld angekommen sind.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Norddeutschen Rundfunks, dort gesendet am 8. Mai 2015.


20.05.2022 Artikelarchiv >>
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