hauptmotiv

SCHMINI

Null Promille

Auslegung von Rabbiner Rothschild

Eine Katastrophe ist passiert. Zwei Söhne von Aharon, dem Priester, haben einen Fehler gemacht – sie sind unaufgefordert ins heilige Stiftzelt gekommen, sie haben ‚fremdes Feuer‘ hineingebracht und plötzlich selbst Feuer gefangen… Ihre verkohlten Leichen liegen jetzt im Heiligtum, alle Anwesenden stehen unter Schock. Es ist ein ‚Betriebsunfall‘- gleichzeitig aber auch mehr. Es ist wie ein Unfall in einem Atomkraftwerk – nicht nur ein technisches Versagen, sondern ein Glaubensproblem. Was ist los? Darf man kein hundertprozentiges Vertrauen in dieses System mehr haben? Wissenschaft ist die neue Religion – oft wurde uns gesagt: „Nichts kann schief gehen!“ Und dann geht etwas doch schief. Wem kann man dann noch glauben?

Gemäß unserem Text im dritten Buch Mose, Kapitel 10, scheint es auch für Gott ein Schock zu sein; wir lesen nicht, dass Gott die zwei jungen Männer bewusst ‚bestraft‘ hätte. Was sie taten, wer keine Sünde als solche, sondern ein dummer Fehler. Und Gottes erste Worte sind dann sehr wichtig. Was sagt Gott zu Aharon im Vers 9? „Wein und andere berauschende Getränke sollst du und deine Söhne nicht trinken, wenn ihr in das Stiftzelt geht, auf dass ihr nicht sterbet. Damit ihr unterscheidet zwischen dem, was heilig und nicht heilig ist, zwischen dem, was unrein und rein ist…“
Also: aus dieser Katastrophe muss man lernen. Konzentration, absolute Konzentration und Klarheit ist erforderlich. In heutigen Zeiten würden wir sagen: „Null Promille“. Wenn man ein Pilot ist, oder ein Lokführer, wenn man mit Traktoren oder Maschinen arbeitet. Ob als Ärztin oder Lehrerin, beim Autofahren – wann immer man in der Lage sein muss, schnell und richtig zu entscheiden, sozusagen zwischen ‚rein‘ und ‚unrein‘ zu unterscheiden – zwischen links und rechts, zwischen ‚zu schnell‘ und ‚zu langsam‘, zwischen diesem Knopf oder jenem Knopf, wenn man zwischen zehn Hebeln oder Blinklichtern schnell erkennen soll, welcher der richtige ist – dann darf man nicht vorher etwas ‚Berauschendes‘ zu sich genommen haben. Weder eine gute Ausbildung noch ein Amt bewahren einen dann vor schwerwiegenden Fehlern.
Das meint natürlich nicht nur Alkohol, sondern auch andere Drogen, weil Alkohol nur eine Droge unter vielen ist, die uns beeinflussen können. Wie oft liest man auf dem Beipackzettel von Medikamenten: „Könnte schläfrig machen: Keine Maschinen betätigen“ oder ähnliches? Auch nach einer Narkose beim Zahnarzt wird man darauf hingewiesen, für einige Stunden kein Auto zu fahren.
Wir haben nicht vorher gelesen, ob Nadav und Avihu, die beiden Söhne Aharons, Wein oder Branntwein getrunken hatte. Es kann also sein, dass Gottes Antwort an dem aktuellen Problem vorbei geht. Dennoch, man lernt – und auch Gott lernt – dass zusätzliche Vorschriften zweckmäßig sind. Volle Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und schnelle Reaktionen sind nötig. Die Priester vermitteln zwischen Menschen und Gott, zwischen Erde und Himmel. Sie tragen eine große Verantwortung. Ihre Arbeit ist – buchstäblich – eine Sache von Leben oder Tod.
Wenn ich in ein Flugzeug steige, erwarte ich, dass der Pilot völlig nüchtern ist, nichts Verbotenes geraucht hat, nicht mit Pillen gegen eine Grippe vollgestopft ist… Dass er gut geschlafen hat, nicht gerade mit seiner Frau gestritten hat, keine Geldsorgen hat und keine Selbstmordgedanken hegt. Denn, obwohl ich zwischen Erde und Himmel fliegen muss, weiß ich doch, wo ich hingehöre – nach unten, auf die Erde und am Leben! Wir sind zwar alle in Gottes Hand, aber regelmäßig auch in der Hand von anderen Menschen, die verantwortlich dafür sind, dass wir sicher dahin kommen, wohin wir wollen.
Das Judentum hat kein Problem mit Wein als solchem – es gibt sogar einen Segensspruch dafür – oder mit Alkohol. Aber nur, wenn die Zeit dafür die richtige ist. Für die Priester, die den Dienst versehen, die zwischen heilig und nicht heilig unterscheiden müssen – ist die Grenze wirklich null Promille.
Und für Sie?
Schalom!

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des RBB, dort gesendet am 20.4.2012.

28.04.2017 Artikelarchiv >>
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