hauptmotiv

WAJISCHLACH

Vorbild großer Bruder

Wie Jakow aus Esaws Geradlinigkeit und Stärke lernen konnte

Auslegung von Rabbiner Ronis

Die Beziehung zwischen Geschwistern ist manchmal sehr ambivalent: mal eine wundervolle und harmonische Symbiose, dann wieder stark von Konkurrenz geprägt. In der jüngeren Geschichte sind solche Zwiste wohlbekannt: Zum Beispiel werden die Gebrüder Dassler sicherlich vielen ein Begriff sein. Die beiden gründeten in den 20er-Jahren in der Waschküche ihrer Mutter den ersten »Turnschuh«-Konzern. Im Laufe weniger Jahre zerstritten sie sich, und so gingen aus ihrem Unternehmen die weltbekannten Konzerne und Sportmarken Adidas und Puma hervor.

Auch in der alten Geschichte begegnen uns streitende Brüderpaare: Romulus und Remus zum Beispiel. Der Legende nach stritten sie sich um die Herrschaft Roms. Als Remus über die Stadtmauer seines Bruders Romulus sprang und dadurch ein wichtiges Gesetz verletzte, erschlug ihn jener mit den Worten: »Es möge jedem so ergehen, der einfach so über meine Stadtmauer springt.«

Eifersucht

Der Streit zwischen Brüdern ist auch eines der heiklen Themen in der Tora. Konkurrenz und Eifersucht bestimmen die Darstellungen fast aller Brudererzählungen. Die berühmtesten Brüderpaare sind Kajin und Hewel, Jizchak und Jischmael, Esaw und Jakow – und dann sind da noch Josef und seine Brüder.

Während wir bei Kajin und Hewel das schlimmste Ende sehen – das Erschlagen des Bruders –, geht es bei den anderen Geschwisterpaaren neben Konkurrenz eher auch um die Frage der Identität: Wer ist der Träger der Verheißung, wer führt Awrahams Segen weiter und behält die Tradition bei?

Was ist in unserem Toraabschnitt das Besondere am Bruderpaar Esaw und Jakow? Die Zwillinge Esaw und Jakow sind offenbar schon im Mutterleib Konkurrenten. Bereits bei der Geburt hält Jakow sich an der Ferse seines älteren Bruders Esaw fest. Jakow scheint sich Zeit seines Lebens mit seinem Bruder Esaw nur messen zu wollen, um dadurch die Gunst des Vaters Jizchak zu erhalten. Doch letzten Endes bleibt Esaw der Liebling seines Vaters, denn beide essen gern Wildbret.

Und so kauft Jakow seinem Bruder Esaw, der nach der Jagd hungrig nach Hause kommt, das Erstgeburtsrecht für einen Linseneintopf ab und erschleicht sich im Nachhinein den dazugehörigen Segen seines erblindeten Vaters Jizchak. Danach flieht er, um Esaw aus dem Weg zu gehen. Erst Jahrzehnte später stellt sich Jakow seinem Bruder. Esaw ist misstrauisch und kommt Jakow mit 400 Mann entgegen.

Oberwasser

Schaut man sich diese Geschichte genau an und lässt rabbinische Auslegungen vorerst unbeachtet, dann fällt auf, dass eigentlich Esaw sich in der stärkeren Position befindet. Das lässt sich vor allem daran erkennen, was die Tora über seinen Charakter und seine Person sagt: Er wird als starker Mann beschrieben, als Jäger, der von seiner Beute lebt – deshalb bewundert ihn sein Vater Jizchak.

Jakow hingegen findet bei seinem Vater wenig Beachtung. In einem patriarchalen System ist das ein großes Problem. Jakow nimmt dadurch eine unterlegene Position ein. Dies zeigt sich auch darin, wie Esaw seinem Bruder gegenübertritt. Er sieht in ihm keinen Konkurrenten: Anders als Jakow mit ihm scheint er mit Jakow keinen brüderlichen Wettstreit ausfechten zu wollen und tritt ihm für eine Schüssel Linseneintopf kurzerhand das Erstgeburtsrecht ab.

Esaws stärkere Position kann man später daran erkennen, dass es ihm leichtfällt, sich mit Jakow zu versöhnen. Diese Bereitschaft ist der überraschende Höhepunkt einer sorgfältig vorbereiteten Begegnung. Man könnte meinen, dass die 400 Männer, die Esaw begleiten, Jakow nicht unbedingt zu Friedenszwecken entgegenströmen. Doch Esaw denkt in diesem Augenblick weniger an Konkurrenz oder Frieden mit Jakow, sondern an sein eigenes Wohlbefinden, an seinen Schutz. Denn er erinnert sich daran, wie Jakow ihm sein Erstgeburtsrecht gestohlen hat. Er weiß nicht, dass Jakow sich in den 20 Jahren seines Exils sehr verändert hat.

Man könnte fast meinen, Jakow sei erst durch Esaw zu dieser Art Wandlung in der Lage gewesen: Esaw, der als stark und geradlinig beschrieben wird, der keinen Streit mit seinem Bruder sucht, zwingt Jakow zum Umdenken. Er hat sich geschickt von Esaw das Erstgeburtsrecht erschlichen. Doch er scheint aus der Einfachheit, aus der Geradlinigkeit und Stärke seines Bruders in den Jahren, während er bei seinem Schwiegervater Lawan diente, gelernt zu haben.

Israel

Jakows Wandel erreicht seinen Höhepunkt, als er von Angesicht zu Angesicht mit einem göttlichen Wesen kämpft. Hier wird aus dem alten Jakow der wahre Israel – ein Mann, der mit sich selbst ringt, mit seiner Umwelt und mit Gott. Jakow stellt sich seinen Dämonen und seinen Ängsten und verdient sich dadurch den Namen Israel.

Es ist also Israel, der Esaw gegenübersteht – ein Mann, der nicht sein Schwert gegen seinen Bruder erhebt, sondern ein Mann, der sein Herz verändert hat und geläutert ist. Vor einem solchen Mann, das versteht Esaw sofort, braucht er sich nicht zu fürchten.

Es war Jakow, der sich ändern musste, damit er weiter profitieren konnte von Awrahams Segen, der über Jizchak weitergegeben wurde. Jakow musste sich den Segen erst einmal verdienen. Und so wird aus ihm Israel, der nicht den Krieg sucht, sondern seinem Bruder die Hand des Friedens entgegenstreckt – ein Mann, der sich wandelt und erst dadurch zum Verheißungsträger für sich und seine Nachkommen wird.

Wir sehen, dass ein Segen allein nichts wert ist, wenn die gesegnete Person sich nicht bewusst darum bemüht. Darum ist Jakow für uns ein wertvolles Beispiel, an das in jeder Generation erinnert werden muss.

Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 14.11.2013.


28.12.2016 Artikelarchiv >>
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