hauptmotiv

LECH LECHA

Reich und einsam

Avram verlässt seine Heimat, bekommt keine Kinder und fängt an zu zweifeln

Auslegung von Rabbinerin Deusel

Der Ewige spricht zu Avram: Geh doch, geh – weg aus deinem Heimatland, weg von deinem Wohnort, weg von deinem Familienclan; geh in ein Land, das ich dir zeigen werde! Zum Segen werde es Avram sein, verheißt ihm der Ewige, und Er verheißt ihm auch, dass er der Stammvater eines großen Volkes sein wird, dass er ihn segnen und seinen Ruf groß machen werde.

Und Avram geht, zusammen mit seiner Frau Sarai, seinem Neffen Lot und mit allem, was ihnen gehört, mit G’ttvertrauen im Herzen und einem Ideal vor Augen. Was mag sich Avram dabei gedacht haben? Ging es ihm, wie es auch heute jedem jungen Menschen geht, der in sein eigenes Leben aufbricht, weg vom Elternhaus – voller Erwartungen an die Zukunft, und doch auch voller Befürchtungen? Die kleine Gruppe kommt nach Kena’an, und der Ewige verheißt Avram: Dieses Land ist es, das ich deinen Nachkommen geben will.

Auswanderer

Damit könnte die Geschichte zu Ende sein – doch so einfach ist es nicht, denn das Land ist bereits besiedelt, von den Kena’anitern. Und wie so manchem Auswanderer heute gelingt es auch Avram und seiner Familie nicht auf Anhieb, im neuen Land Fuß zu fassen. Er erlebt eine erste Enttäuschung und gleich darauf noch eine zweite, die Avram deutlich macht, dass er ein Niemand ist in diesem Land.

Als eine Hungersnot ausbricht, sind Avram und Sarai vermutlich auch unter den Ersten, die anderswo ihren Lebensunterhalt suchen müssen, ohne den Rückhalt ihres Clans und ihres Stammlandes. Sie ziehen also weiter nach Ägypten – und Avram wird angst und bange: Sarai ist eine so schöne Frau, und er ist ein Mann ohne Einfluss – werden die Ägypter ihn nicht einfach aus dem Weg räumen und seine Frau in Pharaos Harem bringen? Das war nicht unüblich, wie uns Papyri und Grabinschriften überliefern.

»Sag doch, du seist meine Schwester«, bittet Avram seine Frau. Tatsächlich landet Sarai im königlichen Harem, und Avram als ihr »Bruder« erhält einen königlichen Brautpreis. Allerdings hat der Pharao keine große Freude an der schönen Sarai; der Ewige lässt das nicht zu. Ziemlich wütend entlässt der Pharao Sarai mitsamt Avram, gibt ihm eine Menge Geld und Vieh mit, und einen Geleitschutz obendrein, nämlich hinaus aus Ägypten, wieder zurück nach Kena’an.

Landleben

Inzwischen ist Avram ein gemachter Mann, und sein Neffe Lot ebenfalls. Sie haben so viel Vieh, dass die Weideflächen für beide zusammen nicht mehr ausreichen. Also trennen sie sich, und Lot wird mehr oder weniger zum Städter, während Avram dem Landleben treu bleibt.

Die reichen Städte in der Jordansenke stechen aber auch den Königen aus dem Osten in die Augen, und so kommt es zu einem Überfall auf die Städte Sdom und Amora, in dessen Folge auch Lot mit seiner Familie den Feinden in die Hände fällt. Als Avram davon erfährt, sammelt er alle waffenfähigen Männer seines Haushalts und setzt dem Feind nach, ist doch Lot sein nächster Verwandter. Es gelingt ihm auch, Lot und all die Seinen mitsamt den anderen Gefangenen und deren Habe zurückzuholen.

Es hätte ein großer Triumphzug werden können, als Avram und seine Verbündeten die befreiten Gefangenen und deren beweglichen Besitz zurückbringen; aber das liegt nicht in Avrams Absicht. Malki-Zedek, der Priester-König von Schalem, zieht Avram entgegen und segnet ihn, und Avram gibt ihm den Zehnten der Beute.

Schnürsenkel

Ob der König von Sdom damit nicht einverstanden war? Jedenfalls sagt dieser ein wenig patzig zu Avram: Behalte doch gleich alles, gib mir nur die Menschen zurück. Damit beleidigt er Avram, und der richtet sich hoch auf und sagt: Nicht einmal einen Schnürsenkel nehme ich von dir! Ich brauche dein Geld nicht! Spricht’s und geht zurück zu seinen Schafen.

Offenbar kommt Avram aber ins Grübeln: Was ist der Sinn seines Lebens? Was bedeutete die Verheißung des Ewigen? Ein großer Ruf – etwa als Kriegsmann? Stammvater eines großen Volkes – als Kinderloser? Gesegnet sein – nun ja. Nach all den Abenteuern seit dem Aufbruch aus Charan ist er ein reicher Mann, aber auch ein einsamer. Sein Neffe lebt mit Frau und Kindern in der Stadt, kommt als Nachfolger für den »Familienbetrieb« also kaum infrage. Wie soll es weitergehen? Was hatte der Ewige nur mit ihm im Sinn, als Er sagte: »Lech lecha«?

Es wühlt Avram wohl ziemlich auf, denn wir lesen, dass ihm der Ewige eine Antwort auf seine unausgesprochene Frage gibt: Al tira! – Fürchte dich nicht; du wirst reichen Lohn erhalten. Avram druckst ein wenig herum, er will es nicht als Vorhaltung gegen den Ewigen formulieren, und doch sagt er schließlich, was ihn bekümmert: Lohn? Wozu? Ich habe ja keine Nachkommen! Da gibt ihm der Ewige eine wunderbare Antwort: Er zeigt ihm den funkelnden Sternenhimmel über der Wüste – als Sinnbild für die vielen Nachkommen, die Avram einst haben wird. Und noch einmal bekräftigt G’tt: Du wirst dieses Land besitzen, durch deine Nachkommen. Avram fragt nach: Wie soll ich mir das vorstellen? Zweifelt er etwa am Ewigen?

Bild

Rabbiner Benno Jacob (1862–1945) gibt uns eine andere Deutung: So wie der Sternenhimmel ein eindrückliches Bild ist, an das sich Avram halten kann in seiner Hoffnung auf Nachkommenschaft, so bittet er den Ewigen auch noch um ein Bild dafür, dass diese Nachkommen das Land besitzen werden.

Und der Ewige gibt ihm eins – ein Bild, das so eigenartig ist, dass man es nicht leicht vergisst: ein Kalb, eine Ziege und einen Widder, jeweils genau in der Mitte durchtrennt, dazu eine Taube und ein Küken. Ein Raubvogel stößt auf die Tiere herab, aber Avram verscheucht ihn. Dann gehen Feuer und Glut zwischen den Stücken hindurch.

Vielfältig sind die Deutungen für dieses Bild vom »Bund zwischen den Stücken«: Manche meinen, man sehe darin, dass der Ewige genauso untrennbar mit Avram und seinen Nachkommen verbunden ist wie die zwei Hälften eines Lebewesens. Andere sehen darin die Ankündigung der Sklaverei in Ägypten und das Herausführen des Volkes durch den Ewigen.

Nicht jeder von uns erhält so eindrucksvolle Bilder für seinen Lebensweg. Und nicht alle Lebensträume gehen in Erfüllung, jedenfalls nicht auf die Weise, wie wir es uns vielleicht vorgestellt haben. Zu unserem Weg gehört aber nicht nur das Schöne wie der leuchtende Sternenhimmel, sondern auch das Unverständliche, Verhängnisvolle. Seien wir aber gewiss, dass der Ewige im einen wie im anderen mit uns ist.


Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 3.11.2014.


18.11.2016 Artikelarchiv >>
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