hauptmotiv

ACHAREJ MOT

Das richtige Maß

Die Tora lehrt, wie sich die Menschen G’tt und einander nähern sollen – und wie nicht

Auslegung von Rabbinerin Yael Deusel

Es geht um Leben und Tod in dieser Parascha, auf mehreren Ebenen. Und es geht um das richtige Maß von Nähe und Distanz. Bereits die ersten Worte gemahnen an das Schicksal von Nadav und Avihu, die sich dem Ewigen in unerlaubter Weise näherten. War es Leichtfertigkeit? War es Absicht? War es die physische Art des sich Näherns, oder hatten sie nicht die richtige innere Einstellung?

Darüber können wir nur Vermutungen anstellen – Vermutungen, die im Wochenabschnitt Acharej Mot neue Nahrung erhalten, denn dieser Abschnitt enthält drei ganz unterschiedliche Aspekte, die nur scheinbar nicht zueinander gehören.

Tempel

Zunächst erfahren wir, wie man sich dem Ewigen körperlich nähern konnte, damals, als das Heiligtum noch stand, ob als Ohel Mo’ed oder als fest gebauter Tempel. Es konnte nicht zu jeder Zeit geschehen, und es konnte auch nicht jeder Beliebige einfach so in das Innere des Heiligtums hineinspazieren, wie es ihm gerade gefiel. Das Betreten des Heiligtums diente einem festen g’ttesdienstlichen Zweck, und es erforderte die Einhaltung bestimmter Regeln. Ob wir auch heute manchmal daran denken, solche Grundregeln zu beachten – wenn wir zum Beispiel als Touristen Häuser des Gebets anderer Länder oder anderer Religionen betreten und uns dort benehmen wie in einem Museum?

Wir erfahren in unserem Wochenabschnitt aber auch, wie wir uns zu allen Zeiten, unabhängig von einem zentralen jüdischen Heiligtum, immer wieder im Geist dem Ewigen nähern können, in der Absicht von Teschuwa, unter dem Aspekt von Schuld und Sühne. Sehr genau ist das Ritual von Jom Kippur beschrieben, wie es seinerzeit durchgeführt wurde. Aber auch ohne Opfertiere und Hohenpriester ist es uns möglich, jederzeit – und ganz bestimmt an Jom Kippur – zum Ewigen zurückzukehren, Ihm wieder ganz nahezukommen, in der rechten Kawana, im aufrichtigen Wunsch, des Ewigen Gebote zu befolgen.

Tiere

Nähe und Distanz zwischen dem Schöpfer und den Menschen also – und was ist mit den anderen Geschöpfen des Ewigen? Sind nicht auch die Tiere Seine Geschöpfe, und sollten im Umgang mit ihnen nicht ebenso feste Regeln gelten? Der zweite Abschnitt von Acharej Mot ist fast ein Schock für alle, die keine Vegetarier sind: Hier wird das Schlachten von Nutztieren für den Verzehr von Fleisch mit Mord verglichen. Mit Mord? Hat uns der Ewige nicht nach der großen Flut erlaubt, Fleisch zu essen? Das hat Er wohl; aber Er hat es an bestimmte Bedingungen geknüpft. Eine der wichtigsten wird hier genannt, nämlich das Verbot von Blutgenuss.

Nach damaliger Auffassung war das Blut eines Lebewesens der Sitz seines Seins, seines ureigenen Lebensgeistes. Einem Tier das Leben zu nehmen und sich überdies noch dessen Blut, dessen Lebensgeist also, einzuverleiben, kommt dem ultimativen Extrem von allzu großer, vernichtender Nähe gleich. Zudem darf man diese Tiere, die der Ewige geschaffen hat, keinem Götzen oder Dämon opfern. Auch der Bock, der die Verfehlungen des Volkes an Jom Kippur in die Wüste, zu Asasel trägt, wird ja nicht geopfert, sondern er wird weggebracht, fortgeschafft aus der Nähe des Ewigen, und damit auch aus der Mitte der Gemeinschaft um den Ewigen.

Sexualität

Den Abschluss unserer Parascha bildet ein Kapitel über erlaubte und verbotene sexuelle Beziehungen und damit über Nähe und Distanz im zwischenmenschlichen Bereich. Dass in diesem Zusammenhang auch die Sodomie als verachtenswert dargestellt ist, versteht sich von selbst, zumal dieses Verlangen ja nicht vom Tier, sondern vom Menschen ausgeht.

Manche der Vorschriften über die Beziehung von Mensch zu Mensch werden heute anders betrachtet, und dies sicherlich zu Recht. Andere haben ihre ewige Gültigkeit behalten, wie das Verbot des Inzests. Gleich geblieben ist unveränderlich die Wahrung des Schamgefühls und der körperlichen und seelischen Würde eines Menschen. Von da können wir auch Verbote ableiten, die so in der Tora nicht explizit aufgeführt sind, wie zum Beispiel die Pornografie und an allererster Stelle die Kinderpornografie, eine der würdelosesten und erniedrigendsten Erscheinungen im zwischenmenschlichen Bereich.

Gefährliche, unerlaubte Nähe, Übergriffigkeit des Menschen, sei es unmittelbar dem Ewigen gegenüber oder auch mittelbar, durch das Verhalten Seinen Geschöpfen gegenüber, ob Mensch oder Tier, davon spricht der gesamte Wochenabschnitt Acharej Mot. Er ist damit eine der zentralen Schriftstellen in der Tora, wird hier doch auf die drei Dinge Bezug genommen, die wir keinesfalls – nicht einmal unter akuter Lebensgefahr! – tun dürfen: Schefichat Damim (Mord, unrechtes Blutvergießen), Avoda sara (Götzendienst) und Giluj Arajot (verbotene sexuelle Handlungen), wie uns der Talmud lehrt (Pesachim 25a-b und Sanhedrin 74a).

»Beachtet Meine Gesetze und Meine Rechte, durch die der Mensch, wenn er sie ausübt, ewiges Leben erhält«, versichert uns der Ewige. Dies bezieht sich durchaus nicht nur auf das Jenseits, sondern soll uns Menschen durch die Beachtung der Gebote ein gutes und sinnerfülltes Leben hier im Diesseits ermöglichen.

Teschuwa

Die Gebote und auch die Ermahnung, sie einzuhalten, sind erforderlich, da der Mensch einen freien Willen erhalten hat. Er kann sich also entscheiden, nach den Wegen der Tora zu leben und zu handeln, oder sich davon zu entfernen. Der Ewige lässt keinen Zweifel daran, was Er für den Menschen wünscht und von ihm haben will, und Er räumt ihm sogar bis zum allerletzten Atemzug die Möglichkeit zur Teschuwa ein.

Es liegt also an uns, wir haben die Wahl – im Gegensatz zu jenen zwei Böcken an Jom Kippur, über die das Los entschied, wer von beiden für den Ewigen bestimmt war und wer zum Asasel in die Wüste geschickt wurde. Und im Unterschied zu den zwei Ziegenböcken geht es für uns Menschen nicht darum, durch die Beachtung der Gebote umzukommen, sondern durch sie und mit ihnen zu leben. Wir sollen nicht unserem Tod, sondern unserem Leben einen Sinn geben. Denn das Leben und die Würde Seiner Geschöpfe sind dem Ewigen kostbar, in jeglicher Hinsicht.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 7.5.2014.


06.05.2022 Artikelarchiv >>
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