hauptmotiv

JITRO

Perfektionismus

Religiöses Strohfeuer

Auslegung von Rabbiner Boris Ronis

Das Phänomen eines suchenden Menschen ist jedem ein Begriff. Einige suchen mehr im spirituellen, andere eher im weltlichen Bereich. Manche Menschen haben etwas gemeinsam: Sie suchen nach etwas Besonderem, ob sie es nun genau definieren können oder nicht. Ich spreche also von einer Persönlichkeit, die ihrem Lebensweg eine gewisse Richtung geben will.

Wir haben somit einen Menschen vor uns, der bewusst erkannt hat, dass sein Leben nur im Zuge eines Lebensweges, durch eine Religion oder eine Philosophie erfolgreich sein kann. Nun ist die Frage, die diese Person sich immer stellt: Welche Philosophie begeistert mich, welchen Weg schlage ich ein, um ein gutes und sinnvolles Leben zu führen?

Die Suchenden verbindet zugleich die intensive Erforschung des bereits gewählten Weges. Ihre Suche ist meistens so erschöpfend, dass der Ausgang oft derselbe scheint – sie scheitern an den Herausforderungen ihrer Suche. Die Frage, die sich dabei auftut, ist: Warum scheitern sie?

Offenbarung

Im Wochenabschnitt Jitro weilen die Kinder Israel am Berg Sinai. Dort erleben sie die Offenbarung Gottes, bekommen die Gesetze von Gott persönlich und bauen, da sie noch nicht bereit sind zu verstehen, später das Goldene Kalb.

Wir erkennen, dass der Berg Sinai ein Ort ist, der für uns etwas Besonderes und Wichtiges darstellt. Umso verwunderlicher ist es, dass die Tora die geografische Lage dieses Berges nicht genau bestimmen will. Doch Orte sind für Suchende immer eine wichtige Quelle und besondere Anlaufstelle. Suchende, die zum Beispiel die Weisheiten von Mosche Rabbeinu erfahren wollen, könnten dann zum Berg Sinai gehen, um sie dort zu bekommen.

Doch der Berg und auch Mosches letzte Ruhestätte scheinen von der Tora absichtlich verborgen gelassen worden zu sein. Es gibt sogar Wissenschaftler, die behaupten, dass der Berg Sinai in der von der Tora beschriebenen Form gar nicht existiert hat. Für einen gläubigen Menschen ist das ein schwieriger Gedanke. Doch hat es auch etwas Befreiendes, den genauen Ort nicht bestimmen zu können.

Der Ort der Lehre und Weisheit geht im Judentum von Zion, von Jerusalem, aus. Wäre der Ort der Offenbarung, der Berg Sinai, genau bekannt, würde er eine konkurrierende Rolle spielen. Solche Orte, genauso wie Mosches Grab, würden zu Pilgerstätten werden. Da im Judentum jedoch nur in Richtung Jerusalem gebetet wird, gilt es, solche Nebenstätten zu vermeiden – zumal eine Lehre weniger an Orte als an das Herz und den Verstand der Menschen gebunden sein sollte.

Hoffnung

Kommen wir auf den Suchenden zurück. Diese Art von Menschen zieht gezielt nach Jerusalem, in die Heilige Stadt, um in der Nähe des Tempelbergs zu sein. Sie gehen schnurstracks zur Westmauer, in der Hoffnung, dort eine Offenbarung, ihre Erleuchtung zu finden.

Genau diese Menschen, die sich zunächst weltlich kleiden, werden in ihrem Glauben und in ihrem Lebensstil schnell konservativer. Die Richtung, in die sich ihr Leben verändert, scheint nun geprägt zu sein von Kompromisslosigkeit und prinzipiellen Verhaltensformen.

Sie glaubten fest an den neu gefundenen Weg. Jede Sekunde ihres Lebens füllen sie plötzlich mit Gebeten und »koscherem« Dasein. Doch: Erfüllt sich ihre Hoffnung, verstehen sie dadurch mehr von der Religion, bekommen sie dadurch ihre Antworten? Können sie durch ihren plötzlichen und abrupten Wandel ihr Glück finden?

Nach einer gewissen Zeit beobachtet man bei diesen Suchenden, dass sich der plötzliche Wandel wieder ändert. Die religiöse Kleidung und der tägliche Gang zur Westmauer werden immer seltener. Rückblickend fangen diese Suchenden an, ihre Entscheidungen zu hinterfragen. Sie zweifeln plötzlich daran, so »konservativ« zu leben und wollen schnell in ihr vorheriges Leben zurück.

Messlatte

Im Grunde genommen haben sie auf ihrem Weg eines nicht verstanden: Eine Philosophie oder eine Religion ist in ihrem Wesen 100-prozentig rein. Doch der »Faktor Mensch« spielt dem immer entgegen. Das bedeutet: Wenn ich mir als Maßstab eine Religion ausgesucht habe, wird sie immer am »Faktor Mensch« scheitern. Wir können mehrfach in den Geschichten der Tora lesen, dass selbst die größten Weisen, die größten Propheten und die heiligsten Könige viele Fehler machten – genauso wie die Kinder Israel im späteren Toraabschnitt mit dem Goldenen Kalb.

Manche Suchende versuchen aber, das 100-prozentig Reine zu finden. So kommen sie nach Jerusalem und denken, dort an der heiligsten Stätte des Judentums Menschen vorzufinden, die der Religion und der Philosophie in genauester Weise entsprechen. Doch ihren Idealen kann leider niemand entsprechen. Und so verwerfen sie ihren Weg und scheitern an derselben Messlatte, die sie zuvor ihrer Umwelt auferlegt hatten.
Dabei scheinen sie eines zu vergessen: Um dem Scheitern entgegenzuwirken, hätten sie sich nicht an den anderen messen müssen und von ihnen keine Perfektion erwarten dürfen, sondern sie hätten nach ihrem eigenen, erreichbaren Weg suchen müssen.

Erwartung

Die Kinder Israels scheiterten beim Auszug aus Ägypten genauso an ihren Erwartungen. Wollten sie doch alles auf einmal haben: das perfekte Land, die perfekte Gesellschaft und das perfekte Leben. Sich aber zunächst mit den Geboten Gottes auseinanderzusetzen, auf Mosche zu vertrauen und erst danach beginnen zu verstehen, das wollten sie nicht. Ein schönes Leben, wie die Ägypter es hatten, war ihre Erwartung. Alles darunter konnten sie sich nicht vorstellen und verlangten von Gott, Mosche und sich selbst das Unmögliche.

Die Tora lehrt uns deshalb, vor allem Geduld zu haben – mit der Umgebung und besonders mit sich selbst. Denn ein Weg ergründet sich erst nach einer Weile des Gehens und fällt niemandem so einfach vom Himmel in den Schoß.

Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 31.01.2013.

04.02.2022 Artikelarchiv >>
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