hauptmotiv

WAJESCHEW

Flüchtling oder Siedler?

Auslegung von Rabbiner Walter Rothschild

Wajeschew Ja’akow b’Eretz Migurei Awiw, b’Eretz  Kena’an.

“Und Jakob wohnte in dem Land des Aufenthaltes seines Vaters, im Land Kanaan.” (Bereschit 37:1)

Wer ‘wohnt’ und wer ist nur ein Siedler, ein Durchreisender, der nur kurz bleibt und dann geht? Eigentlich sind wir alle nur Durchreisende auf dieser Welt. Ja’akov ‘wohnte’, wo sein Vater Itzhak und sein Groß-vater Awraham ohne echtes Aufenthaltsrecht lebten, existierten, immer als Nomaden, ohne Stabilität. Aber wer baut, wer Bäume pflanzt, plant zu bleiben.   

Wie viele Flüchtlinge und Migranten gibt es auf der Welt? Wer hat Bleiberecht, Aufenthaltsrecht, das Recht, Land zu kaufen oder seine Familie zu sich zu holen, und wer ist nur 'Gast' - als Gastarbeiter oder Fremdarbeiter oder sogar 'illegal'? Wer kann planen, sparen - und wer lebt von einem Tag zum nächsten, ohne Sicherheit, mit Angst vor jeder Uniform und  sei es nur ein Zugschaffner oder ein Postbeamter? Die Welt hat sich nicht so sehr geändert - heute, vielleicht dreitausend Jahre nach Ja'akov, ist sie immer noch geteilt, zwischen denen, die Land und Heimat haben, und denen, die wandern müssen.

Die Ironie ist: Auch Ja’akov wird - wegen Dürre und Hungersnot - das Land verlassen, er wird (in Kapitel 46) mit seinen Kindern und einigen Enkelkindern nach Ägypten auswandern, er wird dort sterben und nur seine Gebeine werden zurückkommen (in Kapitel 50), um mit großer Ehre in Hebron begraben zu werden - gerade neben seinem Großvater Abraham, der nur Nomade und Wanderer war.

Sogar dort, am Ort des Begräbnisses, im heutigen Hebron, gibt es noch Streit. Einige werden immer von den Medien ‘Siedler’ genannt - nicht ‘Bewohner’. Ob man politisch dafür oder dagegen ist, das Wort selber ist interessant und nicht neutral. Es meint, man komme von außen und ohne Rechte, man nehme sich oder besetze etwas, statt es zu erben. Schauen Sie sich die europäische Geschichte an: Fast ALLE Länder wurden mehrmals ‘besiedelt’ - von Sachsen und Galliern und Bajuwaren und Wikingern und Schlesiern und Kelten und Pruzzen und  - man muss nur lang genug bleiben und ein paar Kriege gewinnen, und plötzlich ist man kein ‘Siedler’ mehr, sondern ein ‘Ur-Einwohner’ geworden! Bis die nächsten Siedler kommen.

Ich habe irgendwo gelesen, dass 1950 mehr als 50% der Bewohner Brandenburgs Flüchtlinge und Vertriebene waren - jetzt wohnen ihre Kinder, wo die Eltern nur ‘provisorisch’ lebten und ihre Enkelkinder wandern sogar in andere Bundesländer aus.

Die jüdischen Israelis sind fast alle entweder Flüchtlinge oder die Kinder und Enkelkinder von Flüchtlingen. Sie stammten vor dem Ersten Weltkrieg aus osteuropäischen Ländern, aus west- und mitteleuropäischen Ländern in der Mitte des 20. Jahrhunderts, aus ‘Displaced Persons Camps’, aus arabischen und nordafrikanischen Ländern, aus Persien, später aus Äthiopien und aus den GUS-Staaten und jetzt aus Süd-Amerika und wieder aus Europa. Nur eine Minder-heit kommt aus rein ideologischer, zionistischer Motivation - die meisten kamen oder kommen, weil sie sich unsicher oder uner-wünscht fühlen und fühlten. Man sollte das nicht unterschätzen, es hat einen großen Einfluss auf die Politik.

Und trotzdem besuchen jetzt viele Israelis und andere Juden die Länder, aus von denen ihre Eltern oder Großeltern stammten, von wo sie geflüchtet oder vertrieben worden waren. Ich bin auch ein solcher - ich wohne hier, wo mein Großvater und mein Vater nicht mehr wohnen durften. Wo werden meine Kinder wohnen? Wo werden meine Enkelkinder wohnen? Ich weiß es noch nicht. Die Welt ist kleiner als viele denken, aber die Chancen sind groß, man braucht nur Flexibilität und Kraft.  

Schalom!

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Norddeutschen Rundfunks, dort gesendet am 16. Dezember 2011.

30.12.2022 Artikelarchiv >>
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