hauptmotiv

KI TISSA

Wunder verblassen schnell

Warum Mosche das Angesicht Gottes nicht sehen durfte

Auslegung von Rabbiner Tom Kučera

Viele Filme, die biblische Geschichten zeigen – seien es der Klassiker mit Charlton Heston als Mosche (1956) oder der Fernsehfilm mit Richard Harris als Awraham (1993) –, beeindrucken uns, weil ihre Protagonisten mit dem Ewigen sprechen. Im Religionsunterricht behaupten alle, dass solche Kommunikation hilfreich wäre, sowohl für die Einzelnen als auch für die jüdischen Gemeinden. Kann das wirklich stimmen?

In der Parascha Ki Tissa bittet Mosche den Ewigen: »Zeig mir deinen Kawod!« Wir sollten uns zuerst fragen, welches Anliegen hier überhaupt vorgebracht wird. »Kawod« bedeutet meistens »Ehre«, aber diese Ehre bezieht sich auf den Menschen. Wenn etwas gut gemacht wird, sagen wir anerkennend auf Hebräisch: Kol ha-Kawod! In Bezug auf Gott müssen andere Übersetzungen gefunden werden. Mosche bittet: Zeig mir deine »Herrlichkeit« (Mendelssohn, Zunz), Macht, Ruhm oder Erscheinung (Buber).

Alle diese Bedeutungen können gut auch indirekt verstanden werden. Gottes Herrlichkeit (wenn wir bei einer dieser Übersetzungen von »Kawod« bleiben) kann sich indirekt durch menschliche Taten oder möglicherweise durch Naturerscheinungen äußern.

Sogar in der jüdischen Mystik wird das Element des Indirekten durch das System der zehn Sefirot betont, die die zehn Kräfte Gottes, jedoch nicht seine Essenz in dieser Welt darstellen. Wer könnte sich überhaupt eine direkte Erscheinung vorstellen? Und wie? Nicht einmal der zehn- (oder elf-) dimensionale Raum, der nach der modernen Physik in der Wirklichkeit der Atome gang und gäbe sein soll, ist für uns nachvollziehbar.

panim

Vor diesem Hintergrund verstehen wir die Antwort des Ewigen an Mosche: »Keiner kann mein Angesicht (Panim) sehen.« Lasst uns ehrlich fragen: Auch wenn man dieses Panim sehen könnte, würde es in uns etwas Dauerhaftes bewirken?

Die Haftarat Ki Tissa gibt uns die Antwort: Nein, es würde nichts bewirken. Elijahu organisiert ein überzeugendes Spektakel mit den falschen, götzendienerischen Propheten, die vergeblich auf die Annahme ihres Altaropfers warten. Danach kommt Elijahu, ordnet das dreimalige Wasser begießen an und bittet um Hilfe, die auch kommt: Das Feuer des Ewigen verzehrt nicht nur das durchnässte Opfer, sondern auch Erde und Steine. Kann man sich in der gespannten und ergebnisoffenen Situation eine bessere Demonstration der Kawod Gottes vorstellen?

Das ganze Volk sah es und rief die Worte, die wir sieben Mal feierlich jedes Jahr am Ende von Jom Kippur (Ne’ila) singen: »Der Ewige, er ist unser Gott.« Als es in der erwähnten Geschichte das ganze Volk rief, waren alle hingerissen. Doch was geschah mit der Überzeugung des Volkes eine Woche und einen Monat nach dieser beeindruckenden Show? Selbst der erfolgreiche Vermittler Elijahu flieht danach sofort, wird leicht depressiv und möchte sterben. Alles scheint wie Schaum auf einer Welle zu sein.

entkopplung

Hier würden die existenzialistischen Philosophen ansetzen, mit ihrem »sentiment de l’absurdité« und der Entkopplung des Menschen von seiner Wirklichkeit. Genauso würden sich hier andere Denker zu Wort melden mit ihrer Kritik der Religionen, deren Ziele angeblich wie Sand durch die Finger rinnen.

So weit wollen wir nicht gehen. Es genügt, wenn wir ehrlich auf unsere Erfahrungen schauen: Wir sind nicht imstande, unsere positiven Erlebnisse über längere Zeit in Erinnerung zu behalten, um sie effektiv zu vergegenwärtigen. Sie verblassen viel zu schnell. Wie viele großartige Filme, über die wir begeistert waren, sind länger als eine Woche in unserer aktiven Wahrnehmung geblieben? Wie viele beeindruckende Theatervorstellungen und schauspielerische Leistungen konnten uns mehr als eine Woche lang aktiv tragen?

Und trotzdem wollen und dürfen wir nicht auf diese kurzfristigen Wirkungen verzichten. Die Psychologen belegen, dass sogar der Erholungseffekt meistens schon wenige Wochen nach dem Urlaub wieder verschwunden ist. Besonders erstaunlich ist dabei, dass die Länge des Urlaubs dabei keine Rolle spielt.

Leibowitz

Die Wüstenwanderung der Israeliten zeigt, dass ungewöhnliche Erscheinungen der Herrlichkeit Gottes nicht ausreichen. Religionsphilosoph Jeschajahu Leibowitz, an dessen 110. Geburtstag wir uns Ende Januar erinnert haben, war überzeugt davon, dass die Wunder (Zeichen der Herrlichkeit Gottes) keine überzeugenden Beweise sind. Sie erreichen unsere Wirklichkeit nicht. Wie ein Dichter beobachtete: Mit Blitzen kann man die Welt erleuchten, aber keinen Ofen heizen.

Leibowitz bringt dieses Problem auf eine andere, traditionelle Ebene, wenn er behauptet, dass es keine Beziehung zwischen der natürlichen Ordnung und der menschlichen Wahl für die Mizwot gebe. Deswegen beginne das jüdische Gesetz (Schulchan Aruch) mit dem Verb »lehitgaber«, das unsere Mühe in der Bezwingung unserer Natur zum Ausdruck bringt.

Gegen Leibowitz’ Meinung kann polemisch eingewandt werden, dass viele Mizwot ihren Grund in der menschlichen Vernunft haben (sollen). Unabhängig von dieser Polemik, inwieweit die Mizwot gegen unsere Natur laufen, bleibt das Element der Mühe. Irgendjemand sagte, Genialität sei ein Prozent Inspiration und 99 Prozent harte Arbeit.

Tatsächlich versuchen wir, in unserem alltäglichen Schweiß immer wieder unser Gleichgewicht zu finden und gelegentlich zu unserer Urlaubsstimmung durchzudringen. Mit tagtäglicher Anstrengung bemühen wir uns, unsere Aufgaben zu schaffen und die ständig neu entstehenden Probleme zu überwinden (lehitgaber).

Hier hat unsere Tradition viel zu bieten, wie auch Elijahu in der erwähnten Haftara nach seiner Depressionsneigung und in diesem Fall von Gott geleiteten Psychotherapie verstanden hat. Die Lösung vieler Probleme liegt nicht im Donner (Ra’asch) oder Feuer (Esch), sondern in der stillen, feinen Stimme (Kol demama daka). Wir leben in einer komplexen Welt, in der nicht auf Kraft und Druck verzichtet werden kann. Aber diese sind kein Ziel, sondern nur ein Mittel. Was bleibt, ist die ständige Mühe.

Gegen das Verschwinden des Gute-Laune-Puffers nach unserem Urlaub helfen kleine Entspannungspausen während der ersten Arbeitswoche. Gegen das Vergessen der Film- und Theatereindrücke hilft eine Liste, die ich mir ab und zu ansehe. Und die Sehnsucht nach dem intensiveren Kontakt mit Gott, der auf der Ebene der vollen Erscheinung sogar Mosche in diesem Wochenabschnitt verwehrt blieb, kann durch die systematische, unermüdliche, immer neu anfangende Pflege von Kol demama daka geschehen.

Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 28.2.2013.

17.03.2023 Artikelarchiv >>
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