hauptmotiv

LECH LECHA

Unerträgliche Heimat

Warum Avram alles zurückließ und in ein fremdes Land ging

Auslegung von Rabbiner Konstantin Pal

Lech Lecha – auf Deutsch: Geh, zieh weg! – sind die ersten Worte unserer Parascha. Der Aufruf, den Avram von Gott erhält, Land und Heimat zu verlassen, ist zugleich die erste Verheißung des Segens, den Avram erwartet, und der Grundstein für die Entstehung von Am Jisrael, dem Volk Israel.

Haben wir schon mal ernsthaft bedacht, warum Avram auf diese Aufforderung eingeht, ohne zu widersprechen? Allein die Tatsache, dass sich jemand ohne Widerrede dem Befehl beugt und auf den Weg macht, löst die Frage nach dem Warum aus.

Viel wichtiger wird die Frage, wenn wir bedenken, dass Avram zu diesem Zeitpunkt bereits 75 Jahre alt war – ein stolzes Alter damals. Im weiteren Verlauf wird er später in noch höherem Alter zweifacher Vater. In der Tat, damals herrschten andere Zeiten, und die Altersangaben in der Bibel waren wohl andere als heute. Dennoch: Nur wenige 75-Jährige würden die Aufforderung befolgen, alles zurückzulassen und aus ihrem Haus und Land wegzuziehen.

Wir können es uns heute nicht vorstellen, in diesem Alter alles aufzugeben und ein neues Leben zu beginnen. Doch Avram steht auf, nimmt seine Frau, seinen Neffen sowie sein Eigentum und geht weg. Ohne Gott zu widersprechen, ohne nachzufragen, wohin der Weg führen soll, geht er und sieht sich nicht einmal um. Der Midrasch HaHefez betont, das Land sei Avrams Heimat gewesen, denn er nannte es auch »das Land seines Vaters«. Avrams Familie lebte also seit mindestens zwei Generationen dort.

Wir sollen unseren Blickwinkel auch darauf richten, dass die Ursprünge Avrams im heutigen Irak liegen. Wenn wir die Mentalität der Bevölkerung in unsere Betrachtung einbeziehen, wissen wir, dass für sie die Heimat und das Haus, das ihr Vater erbaut hat, eine besondere Bedeutung haben. So einfach verlässt dort niemand sein Zuhause. Die Menschen in dieser Region neigen vielmehr zu Sesshaftigkeit, sie pflegen Familientraditionen und sind bereit, vieles in Kauf zu nehmen, um einen Wegzug zu vermeiden.

UNREIN

Um zu verstehen, warum Avram alles stehen und liegen lässt und fortgeht, versucht uns der Midrasch eine Antwort zu geben: »von einem unreinen in ein reines Land«. Und der Erzähler des Midrasch stellt sich selbst die Frage: »Was ist ein unreines Land?«: eines, in dem Götzendienst betrieben wird.

Ist das einzig und allein der Grund, aus seinem Geburtsland wegzugehen? Ist das Verhalten der Nachbarn so wichtig? Muss ich mir morgen eine neue Wohnung suchen oder gar in eine andere Stadt ziehen, wenn meine Nachbarn anfangen, Steine anzubeten und Holzstatuen zu preisen, oder im Innenhof Voodoo-Rituale vollziehen? Ich muss meinen Wohnort nicht verlassen. Solange meine Nachbarn mich nicht in ihr Tun einbeziehen, ist mir egal, was sie treiben.

War Avram einer anderen Situation ausgesetzt als ich, sodass er sich zum Gehen gezwungen sah? Durchaus! Denn im Gegensatz zu mir, der in monotheistischem Glauben aufgewachsen und gefestigt ist, war Avram der erste Mensch, der im Laufe seines Lebens erst lernte, nur den einzigen und allmächtigen Gott anzubeten. Avram verteilte seinen Glauben nicht wie seine Nachbarn auf 667 Götter, er betete keine Götzen an. Er war ein Einzelgänger, der vermutlich isoliert lebte und von seiner Umgebung dementsprechend betrachtet wurde.

Avram war Außenseiter, der erste Jude unter der Masse von Nichtjuden. Und so sehen wir in dieser Geschichte auch den Beginn der jüdischen Schicksalsgemeinschaft. Avram durchlebte, was uns bis heute verfolgt: Unverständnis und Feindschaft gegenüber unserer Lebensweise. Diese Tatsache macht verständlich, warum er gehen wollte und der Aufforderung ohne Widerrede folgte. Er wollte seine Umgebung verlassen, die ihn als Monotheisten nicht akzeptierte.

ANDERSSEIN

Die Geschichte von Avrams Auszug aus Charan liegt mehr als 3500 Jahre zurück, aber sie hat an Aktualität und Bedeutung nichts verloren. Gerade heute ist sie mehr denn je typisch für das jüdische Volk. Im Laufe unserer Geschichte hat es immer wieder Auszüge und Umzüge gegeben. Viele von uns, ob jung oder alt, sind selbst aufgestanden, haben alles liegen lassen und sind nur mit dem Persönlichen und Nötigsten ausgezogen. Wir haben Russland verlassen und die Ukraine, Usbekistan oder Deutschland und haben uns auf den Weg gemacht in eine ungewisse Zukunft – nur aus einem einzigen Grund: Wir sind anders und deshalb nicht willkommen.

Doch gerade dieses Anderssein ist unsere Identität. Es ist die Identität Avrams, der trotz seines hohen Alters ein neues Leben anfängt. Wir können von diesem Wochenabschnitt lernen, dass die Geschichte sich immer wiederholt und dass auch heute ein 75-Jähriger einen Neuanfang schaffen kann, trotz aller Schwierigkeiten, die damit verbunden sind.

Wiederverwendung mit freundlicher Genehmigung der Jüdischen Allgemeinen, dort erschienen am 25.10.2012.

18.11.2022 Artikelarchiv >>
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