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KI TASRIA

Sind "rein" und "unrein" die richtige Übersetzung?

Auslegung von Rabbinerin Elisa Klapheck

Der Wochenabschnitt „Ki Tasria“ im dritten Buch Mose stellt uns vor eine der größten Herausforderungen. Es geht um die Gesetze der Reinheit und der Unreinheit. Das 12. Kapitel behandelt zunächst die Unreinheit der Frau nach der Geburt eines Kindes. Genau wie nach der Menstruation muss sich die Frau eine Zeitlang absondern und dann ein kultisches Opfer leisten, das sie von der Unreinheit des Gebärens reinigt – sprich: sie für den ehelichen Verkehr mit ihrem Mann, aber auch für religiöse Handlungen im Tempel wieder bereit macht.

Das anschließende 13. Kapitel behandelt eine weitere Art der Unreinheit: den Aussatz. Die Tora zählt verschiedene Sorten auf – Aussatz auf der Haut, an den Haarwurzeln, auf den Kleidern – später sogar Aussatz am Haus.

Auch der vom Aussatz Betroffene muss sich absondern - das Lager der Israeliten verlassen. Erst wenn der Aussatz abklingt, kann er wieder rein werden – mittels eines kultischen Opfers - und in die Gemeinschaft zurückkehren.

Das Begriffspaar „rein“ und „unrein“ zieht sich durch große Teile der biblischen Gesetze. Einen Leichnam zu berühren, macht „unrein“. Üble Nachrede gegen einen anderen Menschen zu üben, macht jedoch auch „unrein“. Und besonders „unrein“ wird man durch den Götzendienst.
Für all dies benennt die Hebräische Bibel jedoch zugleich Rituale, die wieder reinigen – oder läutern. In der Tora sind es kultische Opfer. In späteren Zeiten werden daraus Gebete.

Zwar unterscheiden wir heute durchaus zwischen gut und schlecht, gesund und krank, sauber und schmutzig. Dennoch vermögen die biblischen Begriffe „rein“ und „unrein“ nur schwer zu überzeugen. Das liegt an unseren modernen Werten. Die Frau nach der Geburt ihres Kindes für „unrein“ zu erklären, klingt nicht nur archaisch, sondern widerspricht unserem Verständnis von der Menschenwürde. Wir würden auch nicht einen Kranken aus der Gemeinschaft ausstoßen. Als sich z.B. in den 80er Jahren der HIV-Virus auszubreiten begann, unternahm die Gesellschaft große Anstrengungen, die Risiko-Gruppen eben nicht zu verdammen – sondern Schutz- und Verhütungsmethoden zu propagieren. Ebenso würde man heute auch nicht die Religionen und Kulte anderer Menschen für „unrein“ erklären.

Wie aber können wir dann guten Gewissens am Schabat den Abschnitt „Ki Tasria“ lesen, der so scharf zwischen „rein“ und „unrein“ zu unterscheiden scheint?

Tatsächlich sind „rein“ und „unrein“ schlechte Übersetzungen für die beiden Worte. Sie assoziieren einen Gegensatz: positiv und negativ – sauber und schmutzig. In Hebräisch ist der eine Begriff jedoch nicht die Verneinung des Anderen. Das, was mit „rein“ übersetzt wird, heißt „tahor“ – das, was mit „unrein“ übersetzt ist, „tamej“.

Drei Bereiche können „tamej“ – unrein – machen: alles, was mit Fortpflanzung zu tun hat – alles um den Tod  – und alles, was den durch die Religion entstandenen Sozialverband auflöst. „Tamej“, das haben schon die antiken Rabbiner definiert, ist jedoch kein körperlicher, sondern ein spiritueller Zustand. Die Frau, die ein Kind gebärt, vollzieht eine Geschehnis, das über die Grenzen ihres eigenen Lebens hinausreicht. Geburt – Krankheit und Tod – die Kulte der Anderen – sind alles Sphären, die über die Grenzen des eignen Lebens hinausreichen. Die Tora erkennt an, dass sich Menschen ständig zwischen diesen Sphären bewegen. In Wahrheit ist keine von ihnen wirklich schlecht oder negativ – auch nicht die „tamej“-Sphäre. Wer z.B. einer „Chevra Kadischa“ angehört, also einer Gruppe, die den gerade Verstorbenen bis zur Beerdigung begleitet, erfüllt eine sehr hoch angesehene Pflicht. Trotzdem wird er „tamej“. Er hat die jenseitige Sphäre des Todes berührt und muss deshalb im rituellen Tauchbad – der Mikwe – untertauchen, um wieder in die diesseitigere Sphäre des Lebens unter Menschen zurückzukehren.

Die Gesetze der Reinheit und Unreinheit – markieren somit keinen unüberwindlichen Gegensatz – sondern einen fortwährenden Übergang zwischen verschiedenen spirituellen Sphären. Man befindet sich immer auf der einen oder der anderen Seite. Die Rituale, die die Tora vorschlägt, helfen den Betroffenen, wieder zurückzukehren – „tahor“ zu werden. Entsprechend ist „tahor“ – übersetzt mit „rein“ - nicht im körperlichen Sinne „sauber“ – sondern im spirituellen Sinne auf das Zentrum gerichtet – auf den Tempel, auf die Mitte der Gesellschaft und die Prinzipien, die sie zusammenhalten.

Insofern gibt der Abschnitt „Ki Tasria“ keine Vorlage für schwarz-weiß-Ansichten – und schon gar nicht für Bewertungen und Diskriminierung. Er ist vielmehr eine Anleitung für den Übergang – die erlaubt, sich auf eine andere Seite zu begeben, zumal es ja ein Ritual gibt, das immer wieder eine Rückkehr ermöglicht.

08.04.2022 Artikelarchiv >>
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