hauptmotiv

WAJIKRA

Der Unterschied zwischen Sünde und Schuld

Auslegung von Rabbinerin Klapheck

„Exodus“ - das 2. Buch Mose mit seinem weltbewegenden, uns heute noch tief aufrührenden Bericht vom Aufbruch in die Freiheit ist zu Ende. Wir lesen ein neues Buch – Leviticus, das dritte Buch Mose. Was für ein Anti-Klimax!, denkt sich mancher von uns. Die ersten fünf Kapitel, die unseren heutigen Wochenabschnitt „Wajikra“ bestimmen, könnten nicht öder sein. Opfervorschriften über Opfervorschriften. Haarklein beschreibt die Tora, wie die Israeliten mit Stieren, Widdern, Ziegen und Lämmern ihre jeweiligen Ganzopfer, Friedensopfer, Sündopfer und Schuldopfer darzubringen haben. Man könnte den Eindruck bekommen, es handele sich hier eher um eine Ausbildung zum Schlachter, als um die Gestaltung einer Religion.

Und doch – schaut man sich die Opfervorschriften genau an und nimmt man ihre unterschiedlichen Nuancen ernst, erhellt sich plötzlich eine theologische Struktur, die auch uns, obwohl wir keine Opfer mehr praktizieren, immer noch etwas angeht.

Es geht um den Unterschied zwischen Schuld und Sünde.

Im heutigen religiösen Sprachgebrauch werden die beiden Wörter zumeist als beliebig austauschbar verwendet. Tatsächlich aber verstand die Tora unter Sündopfern und Schuldopfern zwei verschiedene Arten von Opfern – da Sünde und Schuld verschiedene Tatbestände darstellten.
Wer sich mit einer Straftat schuldig gemacht hat, sollte nach der Tora von den säkularen Gerichten dafür bestraft werden. Darüber hinaus musste er seine Schuld gegenüber Gott sühnen. Hierfür beschreibt die Tora einen zweistufigen Vorgang. Zunächst ein Schuldopfer, das die Schuld benennt – gefolgt von einem zweiten Opfer, einem Sündopfer.

Was ist Sünde im Unterschied zur Schuld?

Zur Schuld gehören ein individuell identifizierbarer Täter und eine konkrete Tat.
Die „Sünde“ vollzieht sich hingegen in einem erweiterten Kreis. Sie betrifft die Gesamtheit: die Gemeinde, das jüdische Volk, ja sogar die Menschheit. Mit „Sünde“ meint die Tora denjenigen Aspekt einer konkret begangenen Schuld, der die Integrität der ganzen Gemeinde und damit ihre Beziehung zu Gott, beschädigt. „Sünde“ ist die Konsequenz der Schuld. Jemand tut etwas Verbotenes – betreibt z.B. üble Nachrede – und die Anderen stimmen mit ein. Oft setzt sich die Sünde unbeabsichtigt fort - bischgaga - durch Irrtum, Fehleinschätzung und Nichtwissen. Sie ist eine „negative Energie“, die die gesamte Gemeinschaft belastet, ohne dass man notwendigerweise ihren individuellen Ursprung kennt.

Der große Sühnetag – der Jom Kippur – steht im Zeichen einer gemeinschaftlich verstandenen Teschuwa – einer Umkehr Israels insgesamt. Viele Bekenntnisse und Gebete der Jom-Kippur-Liturgie sind in der kollektiven „Wir“-Form verfasst und beginnen mit Formel: „Chatanu lefanecha - Wir haben vor Dir gesündigt…“. An diesem Tag sollen die Sünden, die die ganze Gemeinschaft auf sich geladen hat, gesühnt werden. Zwar erfordert dies, sich persönlicher Schuld bewusst zu werden. Aber persönliches Schuldbewusstsein ist nicht das alleinige Ziel des rituellen Läuterungsprozesses. Der Vorgang strebt zugleich eine kollektive Läuterung an. Nach Auffassung der Rabbinen im Talmud entsühnt der Jom Kippur die Gemeinschaft, selbst wenn man die individuellen Verantwortlichen für das entstandene Negative nicht kennt.

Sünde ist somit der kollektive Kollateralschaden der Schuld des Einzelnen. Diese unterschiedliche Nuancierung von „Schuld“ als individueller, wissentlich begangener Tat und „Sünde“ als Beschädigung des Kollektivs definiert zum Einen die besondere Art der Heiligkeit Israels und zum Anderen die besondere Verantwortung, die jeder Jude nicht nur für seine eigenen Taten gegenüber den anderen Menschen, sondern auch für die Heiligkeit seines Volkes insgesamt trägt.

In ihrer Auseinandersetzung mit dem gemeinschaftlichen Aspekt der Sünde und der Möglichkeit von Teschuwa, von Umkehr, schufen die Rabbinen eine Verantwortungsethik, die jeden Einzelnen immer zugleich auch mitverantwortlich für das Ganze erklärt, selbst dann, wenn ihm persönlich keine Schuld vorzuwerfen ist. Idealerweise setzt Teschuwa eine Kraft frei, die die Gesamtheit immer wieder zu kollektiver Umkehr – zu einer Veränderung der Beschaffenheit der Gemeinschaft insgesamt und damit der Beziehungen aller ihrer Mitglieder untereinander – bewegt.

Hier beginnt die politische Seite der Teschuwa. Die Läuterung von der Sünde, die Wiederherstellung der kollektiven Integrität gegenüber Gott, verlangt einen guten Umgang der Menschen miteinander. Dem entsprechend verstanden die Propheten Teschuwa als Aufforderung zu einer Politik der Solidarität und zur Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit. Ihnen waren dabei die einzelnen Opferbestimmungen nicht so wichtig, wohl aber die Beschaffenheit der individuellen Schuld in Bezug auf ihren kollektiven Aspekt - die Sünde. Auch wir sollten versuchen, das Verhältnis von Schuld und Sünde in unserer Gegenwart zu übersetzen und sehen lernen, wo individuelle Schuld zu kollektiver Sünde führt. Möglicherweise zeichnen sich dabei heutige Anforderungen an die Sühne ab und damit zugleich eine religiöse Dimension, ohne die keine Politik auskommt.


14.03.2014 Artikelarchiv >>
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