hauptmotiv

WAJIGASCH

Judah und Josef lassen die Maske fallen

Auslegung von Rabbinerin Klapheck

„Wajigasch“ – mit diesen Worten beginnt der Tora-Wochenabschnitt an diesem Schabat. Wajigasch - er trat näher. Judah trat näher, als er und seine Brüder in Ägypten angekommen waren - als Flüchtlinge vor der Hungersnot in Kanaan. Judah und seine Brüder stehen vor Josef, nunmehr dem mächtigsten Mann am Hofe des Pharao. Ihr Schicksal liegt in Josefs Hand. Sie wissen noch nicht, dass dieser Mann ihr Bruder ist – jener Bruder, den sie vor vielen Jahren aus Hass erst töten wollten, aber dann an Ismailiten verkauften. Jener Josef, der seitdem in der Familie Jakobs für tot erklärt ist.

Judah trat näher - an Josef heran. Den jüngeren Bruder, den Liebling des Vater, den heutigen starken Mann in Ägypten.

Und jetzt erzählt Judah plötzlich die ganze Wahrheit. Er erzählt von einem verlorenen Sohn in der Familie – eben Josef. Und er erzählt noch von einem anderen Bruder – Benjamin, dem kleinen Nachzügler, der heute der Liebling seines Vater ist und der nicht nach Ägypten mitkam. Judah fleht Josef an, dem Vater – Jakob – nicht auch noch diesen Sohn zu nehmen.

Judah lässt die Maske fallen. Ja - es gibt in dieser Familie Ungerechtigkeiten - tabuisierte Konflikte, eine geliebte und eine ungeliebte Mutter, begünstigte Söhne, Kindheitstraumata, als Folge: Hass, Gewalt und Grausamkeit – aber, es gibt auch Liebe. Der Vater liebt Josef und er liebt Benjamin, die beiden Söhne seiner Lieblingsfrau Rachel. Judah fleht Josef an. Nimm uns, töte uns, aber nimm unserem Vater nicht auch noch den verbliebenen Lieblingssohn Benjamin! In einem Satz hat Judah alles benannt, was in seiner Familie im Argen liegt. Das einzige, was ihm jetzt wichtig ist: Sein Vater Jakob liebt den jüngsten Sohn Benjamin.

In diesem Moment überwindet Judah alle Ressentiments, die ihn uns seine Brüder getrieben hatten. Und in diesem Moment lässt auch Josef die Maske fallen. Er war der Lieblingssohn, aber er muss es nicht mehr sein. „Ich bin euer Bruder, Josef.“

Wie oft im Leben bekommt man die Chance, die Maske fallen zu lassen, das Ressentiment zu überwinden? Wie oft bekommt man die Chance, an einem Menschen, an dem man Unrecht begangen hat, heranzutreten? Wer hat die Kraft, dann die Maske fallen zu lassen und die Wahrheit auszusprechen? Jakob hat dies gegenüber Esau, dem erstgeborenen Zwilling getan. Nun tut Judah es gegenüber Josef, dem Lieblingssohn Jakobs.

Was hierdurch möglich wird, ist nicht Versöhnung. Das an Josef begangene Unrecht kann nicht gesühnt werden. Die Todesangst Josefs, als seine Brüder ihn in den versiegten Brunnen geworfen hatten, ist nicht mehr gutzureden. Die Erfahrung, von seinen Brüdern als Sklave an Fremde verkauft worden zu sein, ist nicht mit Geschenken und schönen Worten wiedergutzumachen. Die Jahre, die Josef unschuldig im Gefängnis des Pharaos verbracht hat, sind nicht mehr auszumerzen. Das alles ist in der Welt, hat tiefe Spuren in Josefs Seele hinterlassen – wenngleich es gewiss auch seinen Ehrgeiz befördert hat, an die Spitze des pharaonischen Hofes zu gelangen – und somit die einzige Position zu bekleiden, in der er seinen Brüdern eines Tages wieder begegnen würde.

Versöhnung ist es nicht, worum es in dieser Erzählung geht. Die Schuld bleibt. Mit ihr müssen Judah und seine Brüder auch weiterhin leben. Doch indem Judah nähertritt und gegenüber Josef die ganze Wahrheit ausspricht, verwandelt sich die Beziehung zwischen ihnen und wird Judah ein Anderer. Er tritt heraus aus dem Muster, das die Tragödie seiner Familie bestimmte.
Niemand ist gezwungen, lebenslänglich in einer Tragödie gefangen zu bleiben. Jeder bekommt irgendwann die Chance, aus dem tragischen Muster heraus zu treten und das Ressentiment zu überwinden. Judah macht den ersten Schritt. Josef reagiert sofort. Dem folgen die Brüder.

Und so macht es niemandem mehr etwas aus, als Josef seinen jüngeren Bruder Benjamin fünfmal so fürstlich mit Geschenken bedenkt, als er - der biblischen Erzählung zufolge - seine Brüder nach Kanaan zurückschickt, um auch Benjamin und seinen Vater Jakob nach Ägypten zu holen und sich die Familie dort wieder vereint.


13.12.2013 Artikelarchiv >>
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