hauptmotiv

Markante Unterschiede

Die Floskel vom jüdisch-christlichen Abendland verkürzt das Judentum zum Vorform des Christentums

Von Rabbiner Walter Homolka


Ein „jüdisch-christliches Abendland“ im Sinn einer exklusiven Wertegemeinschaft mit gemeinsamen jüdisch-christlichen Werten hat es nie gegeben. Vielmehr steht das Judentum in manchem dem Islam näher als dem Christentum, meint Rabbiner Walter Homolka, Rektor des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam.

Immer wieder taucht in der öffentlichen Debatte das Argument auf, das „christliche Abendland“ sei in Gefahr. Einst die Türken vor Wien, heute der Islamismus. Und mit der Türkei und ihrem Willen, in die Europäische Union einzutreten, klopfe der islamische Fundamentalismus direkt an unsere Haustüre. Vielleicht ist das gegenwärtige Festhalten an der Vorstellung vom „christlichen Abendland“ von Furcht geprägt, den Kern unserer Identität zu verlieren. Politisch korrekt erweitern viele den Begriff dann zum „jüdisch-christlichen Abendland“, in der Annahme, damit die Wurzeln unserer europäischen Kultur zu benennen. Ein seltsamer Sprachgebrauch. Denn für Juden war diese Idee eines „christlichen Abendlands“ meist nicht ungefährlich. Jahrhunderte der Verfolgung, Unterdrückung, erzwungenen Wanderschaft und Ausgrenzung im Namen Jesu prägen sich ein in die Erinnerung eines Volkes, das es im „christlichen Abendland“ alles andere als leicht hatte. Christen müssen sich auch vergegenwärtigen, dass ihre Trinitätslehre dem Judentum ferner liegt als die Lehre des Islam.
In seiner auf Latein eingereichten und 1833 auf Deutsch veröffentlichten Dissertation „Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?“ ging Rabbiner Abraham Geiger (1810–1874) der Frage nach, inwieweit sich Christentum und Islam vom Judentum, aus dem beide hervorgegangen seien, unterschieden. Aus seiner Sicht war dabei entscheidend, in welchem Ausmaß hellenistische Einflüsse zur Abweichung vom Monotheismus jüdischer Prägung führten. Für Geiger hatte Paulus das Christentum seinem jüdischen Ursprung und seiner Stiftergestalt Jesus entfremdet. Mohammed dagegen sei dem jüdischen Monotheismus treu geblieben und dem Rechtsdiskurs als religiöser Ausdrucksform. Während das Christentum die Synagoge und ihre Gebotsobservanz für von Gott verworfen hielt, habe der Islam den Respekt gegenüber der fortdauernden Gültigkeit des Judentums nie völlig verloren. Mit dieser Arbeit und seinen weiteren Forschungen über den Koran wurde Abraham Geiger zum Wegbereiter einer modernen Islamwissenschaft.
Ein Blick auf die jüdisch-muslimische Beziehungsgeschichte ist lohnenswert, wenn man beurteilen will, ob die Rede von den jüdisch-christlichen Wurzeln Europas wirklich trägt. Dabei werden dann ganz spannende Befunde deutlich. Die Hohe Pforte am Bosporus gewährte z.B. Freiheiten und Rechte, die im christlichen Europa für Juden keineswegs selbstverständlich gewesen sind. Rabbiner Isaak Zarfati lud 1454 alle deutschsprachigen jüdischen Gemeinden ein, sich im Osmanischen Reich anzusiedeln. 1492 schickte Sultan Bayezid II. sogar Schiffe und nahm viele Juden aus Spanien auf, die vor der Kirche fliehen mussten. Und diese Offenheit und Hilfsbereitschaft setzte sich bis in die jüngere Vergangenheit fort. So ehrte die nationale Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel den türkischen Botschafter Selahattin Ülkümen (1914–2003) als „Gerechten unter den Völkern“, weil er Juden auf Rhodos unter Lebensgefahr zur Flucht verholfen hatte. Kemal Atatürk ermöglichte es durch eine freizügige Einreisepolitik der Türkei vielen jüdischen Professoren aus Nazideutschland, sich zu retten und an türkischen Universitäten weiterzuarbeiten. Unter den Diplomaten der Türkei fanden sich mehr als siebzehn „Raoul Wallenbergs“, die in Europas dunkelster Zeit Mut zur Menschlichkeit bewiesen. So der Botschafter in Marseille, Behiç Erkin. Er verlieh 18.000 Juden die türkische Staatsbürgerschaft und rettete sie vor der Vernichtung.
Man kann  sagen: in Schlüsselsituationen der europäischen Geschichte wusste das Osmanische Reich als islamisches Land mit dem Sitz des Kalifats moralische Werte zu verteidigen, von denen Europa heute in Anspruch nimmt, die seien signifikant für das „christliche Abendland“.
Und wie steht es mit dem Judentum und seiner geistigen Teilhabe am „christlichen Abendland“, an seinen Wurzeln? Ausgerechnet das jüdische Eherecht gibt uns einen interessanten Einblick in das Verhältnis jüdischer Werte mit christlichen Vorstellungen. Rabbiner Abraham Geiger  vertrat eine mit dem Christentum völlig kompatible Position: „Das Judentum lehrt die Ehe des einen Weibes mit einem Manne, die Monogamie.“ Das war allerdings nicht immer und überall so. In biblischer Zeit und noch viele Jahrhunderte später kam es vor, dass ein Mann nicht nur eine Ehefrau hatte. Jakob, der Stammvater des Volkes Israel, war mit zwei Frauen verheiratet, Lea und Rachel. Dasselbe gilt für Mose und andere biblische Personen. Einige Gesetze im Pentateuch gehen klar davon aus, dass ein Mann zwei oder mehr Frauen ehelichen konnte. Auch die meisten talmudischen Gelehrten akzeptierten mehrere Ehefrauen. Allerdings konnten sich das nur Wohlhabende leisten. Wenn sich schließlich in Europa eine monogame Präferenz entwickelte, ist dies auf den Einfluss der griechischen und römischen Kultur und der christlichen Kirche zurückzuführen. Der oströmische Kaiser Justinian verbot die Polygamie im 6. Jahrhundert, wenn auch nur mit begrenztem Erfolg. Die spätere jüdische Rechtsliteratur berichtet, Rabbiner Gerschom ben Juda aus Mainz habe um 1040 ein Dekret gegen die Vielehe erlassen. In den vom Islam geprägten mittelalterlichen jüdischen Gemeinden wurde die Mehrehe hingegen weithin akzeptiert. Maimonides gestattete einem Mann, bis zu vier Frauen zu heiraten, aber nicht mehr – eine Regel, die auch im Islam gültig ist. Rabbiner Eliezer Papo (1785–1826) aus Sarajewo erwähnt noch im 19. Jahrhundert die Möglichkeit der Bigamie bei Kinderlosigkeit. Mehrere Ehefrauen waren also in weiten Teilen des sefardischen Judentums sehr lange üblich. Einwanderer in den Staat Israel, vor allem aus dem Jemen, mussten sich zwar für eine Ehefrau entscheiden, blieben den anderen gegenüber jedoch unterhaltspflichtig. Hier wird also deutlich, dass sich das Judentum einer christlichen Umwelt gegenüber durchaus anpassungsfähig erwiesen hat. Mehr aber auch nicht.
Die oft verwendete Floskel vom „jüdisch-christlichen Abendland“ und von den jüdisch-christlichen Wurzeln verkürzt das Judentum zur bloßen Vorform des Christentums. Im Diskurs mit dem zeitgenössischen Judentum kann man z.B. feststellen, dass wir in wichtigen Grundfragen oft eine andere Position einnehmen als die christlichen Kirchen. Beispielsweise bei Fragen wie Empfängnisverhütung, Stammzellforschung, Ehescheidung, beim Zustandekommen von Lehrentscheidungen, bei der Abtreibung und der Gleichberechtigung der Frau, bei der Ordination von homosexuellen Kandidaten ins geistliche Amt. Wir haben zum Beispiel weltweit einen Frauenanteil von über 50 Prozent bei den neuordinierten Rabbinern in den drei nichtorthodoxen Richtungen des Judentums. Vielleicht ist die Zeit gekommen, solche markanten Unterschiede auch mal mutig zu thematisieren.
Das europäische Judentum hat erst durch die Aufklärung eine wirkliche Gelegenheit erhalten, sich am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen. Folge waren die kulturelle wie rechtliche Emanzipation und die mühsame Suche nach einer widerstandsfähigen Identität in historisch-kritischem Kontext. Dies bedingte und erforderte zugleich eine Neubewertung unserer jüdischen Traditionen und Lehren. Alle Religionen, auch das Christentum, hatten an den Herausforderungen der Moderne zu kauen, und manches ist bis heute unverdaut. Die Vereinbarkeit von Religion und Moderne entscheidet sich besonders an hermeneutischen Grundfragen: Im Schrift- und Traditionsverständnis werden die Weichen gestellt für die Dialog- und Reformfähigkeit von Religion. So mussten sich Judentum wie Christentum in den letzten beiden Jahrhunderten fragen, ob sie eine historisch-kritische Betrachtung von Heiligen Schriften und Tradition zulassen. Diese schmerzvollen Erfahrungen können wir im Gespräch mit dem Islam heute einbringen.
Juden und Christen sind heute einander so nahe, weil beiden die Erfahrung der Aufklärung gemeinsam ist - mit ihrem Primat von Rationalismus und Vernunft. Das Fundament dafür wurde bereits vor der Aufklärung gelegt. Der Historiker William Dalrymple macht uns darauf aufmerksam, dass „…das geistige Erwachen, das die Renaissance verkörperte, fast ebenso sehr dem Zusammenspiel von Orient und Okzident wie einem auf griechischen und römischen Wurzeln aufbauenden Prozess der Selbstfindung geschuldet war.“ (in: Gerald MacLean (Hg.), Re-orienting the Renaissance: Cultural Exchanges with the East.- Palgrave Macmillan, 2005)
Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 mit seinen Säkularisierungsmaßnahmen hat das zu Grabe getragen, was eigentlich erst in romantischer Retrospektive überhaupt zum Konzept wurde. Novalis und die Schlegels trauerten erstmals um dieses „christliche Abendland“. Das, was sie darunter verstanden, war da schon erloschen. Die Französische Revolution und Napoleon Bonaparte hatten es hinweggefegt. Friedrich Schlegel brauchte für seine christliche Staatstheorie allerdings die Idee vom „christlichen Abendland“. Sein Gedanke vom „christlichen Staat“ entwickelt er 1823 in seinem Aufsatz „Signatur des Zeitalters“: „Es kommt vielmehr nur darauf an, ob die vorwaltenden Maximen, Verfahrungsweisen, Grundsätze und herrschenden Principien des Staats selbst, in seiner eigenen Sphäre, ganz unabhängig von der äußern kirchlichen Confession, ihrem innern Geiste nach, mit dem Christenthume übereinstimmen, und also wesentlich christlich sind, oder nicht" (in: Friedrich Schlegel [Hg], Concordia – Eine Zeitschrift, Wien 1823, S. 359). Friedrich Wilhelm IV. von Preußen stützte sich in seiner Vorstellung vom Staatswesen auf diese romantische Idee vom „christlichen Staat“. So sollte es bis zum Ende des Zweiten Kaiserreichs dauern, bis anderen Glaubensweisen in Deutschland die Augenhöhe nicht mehr verweigert wurde.
Der offene Dialog zwischen Juden- und Christentum, wie er heute bei uns gepflegt wird, ist also das Ergebnis eines langen Prozesses: Es hat trotz der Aufklärung noch das ganze 19. und einen Gutteil des 20. Jahrhunderts gedauert, bis Judentum und Christentum zu einem neuen Verhältnis gefunden hatten. Erst musste sich die Verbindung von „Thron und Altar“ lösen und eine Gleichstellung der Religionen in der Weimarer Reichsverfassung erreicht werden. Letztlich hat erst das Trauma des Holocaust den nötigen Bruch in den Kirchen herbeigeführt. Aus der Bankrotterklärung christlicher Ethik im Dritten Reich und aus dem Versagen der Kirchen vor der Aufgabe, die jüdischen Brüder und Schwestern wirksam vor der Ermordung zu schützen, ergab sich nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise ein Ansatz für ein neues Miteinander von Christen und Juden.

Ein „jüdisch-christliches Abendland“ im Sinn einer exklusiven Wertegemeinschaft mit gemeinsamen jüdisch-christlichen Wurzeln hat es nie gegeben. Auf biblischem Fundament haben sich in den drei Schriftreligionen ganz unterschiedliche kulturelle Konventionen entwickelt. Dabei ist das Judentum dem Islam oft genauso nah wie dem Christentum. Ich möchte also lieber davon sprechen, dass jede der drei Glaubensweisen in ihrer ureigenen Form die potenziell zivilisatorische Kraft des Glaubens hier in Europa gespeist hat. Als jeweils universelle Religion lässt sich keine von ihnen zeitlich oder räumlich abgrenzen. Sie verkörpern unterschiedliche Ausdrucksformen der gleichen ‚zivilisatorischen‘ Werte; verschiedene Interpretationen des ewigen Bundes. Durch die Errungenschaften der Aufklärung sind die Religionen zur Entwicklung eines neuen Miteinanders fähig geworden. Dafür musste das Christentum Raum abgeben und den eigenen Absolutheitsanspruch relativieren. Auf dieser Basis können Judentum und Islam die Gemeinschaft mit dem Christentum auf Augenhöhe aufnehmen: um ein europäisches Wertesystem mitzugestalten, das unser Zusammenleben in Europa prägen kann.

In: Zeitzeichen – Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft
„Christliches Europa – Lästiges Erbe oder lebendige Kraft?“
14. Jahrgang, Juni 2013, S. 26 - 28


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