hauptmotiv

Weit mehr als nur ein medizinischer Eingriff

Interview der Nürnberger Zeitung mit der Urologin und Rabbinerin Antje Yael Deusel


NZ: Frau Dr. Deusel, wann ist eine Beschneidung medizinisch sinnvoll?

Antje Yael Deusel: Bei einer Vorhautverengung liegt eine medizinische Erkrankung vor, die man behandeln sollte. Andernfalls kann es zum Rückstau von Harn kommen sowie zu Entzündungen im oberen Harnsystem und im Bereich der Eichel. Das ist für Kinder sehr schmerzhaft. Wenn nur eine teilweise Vorhautverengung vorliegt, kann es zu einer Einschnürung kommen, einer Paraphimose. Dabei kann sogar eine Nekrose der Eichel entstehen, Gewebe also absterben.

NZ: Wie häufig ist das?

Deusel: In unserer Klinik sehen wir das nicht so selten. Allerdings stellen wir für solche Eingriffe eine Art Zentrum dar und führen sie häufiger durch als Hausärzte oder niedergelassene Chirurgen.

NZ: Hat es Spätfolgen, wenn bei Jungs eine erforderliche Beschneidung nicht vorgenommen wird?

Deusel: Spätestens wenn die Jungen ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen und dabei die Vorhaut nicht zurückschieben können, kommt es zu Störungen beim Geschlechtsverkehr. Es ist auch nicht gut, wenn es ständig Entzündungen gibt. Dabei kann es zum Verkleben von Vorhaut und Eichel kommen. Das ist kosmetisch sehr unschön und kann Entzündungen Vorschub leisten, die chronisch werden können. Durch einen chronischen Entzündungsreiz kann eine Verengung der Harnröhrenmündung auftreten, so dass es womöglich Probleme beim Wasserlassen gibt.

NZ: Hat eine Beschneidung auch medizinische Vorteile, wenn keine eigentliche Erkrankung vorliegt?

Deusel: Ja. Eine Beschneidung kann zwar eine HIV-Ansteckung nicht verhindern, aber sie verringert die Infektionsneigung, auch gegenüber anderen Ansteckungskrankheiten. Im späteren Lebensalter tritt das Peniskarzinom bei Beschnittenen gar nicht auf.

NZ: In den USA werden in den Kliniken alle Eltern gefragt, ob ihr Sohn beschnitten werden soll.

Deusel: Das ist richtig, dort wird die Beschneidung jedem angeboten. Manche möchten es, manche nicht. Das ist wie bei Impfungen. Auch diese lehnen manche Eltern ab, selbst wenn sie unbestreitbare Vorteile haben. Ich möchte es aber nicht ganz mit der Impfung vergleichen. Ich würde nicht wirklich jedem Jungen eine Beschneidung empfehlen, obwohl diese durchaus Vorteile hat.

NZ: Doch viele lehnen den Eingriff ab.

Deusel: Bei dem Thema wird viel polemisiert. Ich wollte mit meinem Buch zeigen, was Beschneidung ist und damit das in der Öffentlichkeit noch immer verbreitete Zerrbild ausräumen. Bei dem Thema geistern zum Teil irre Vorstellungen umher, etwa jene vom Mann mit der Glasscherbe. Die Argumente, die Gegner jetzt wieder anführen, sind schon 2000 Jahre alt und erinnern bisweilen an den „Stürmer“. Im Internet kursieren etwa Bilder vom blondlockigen Hünen, der kleine Jungs vor dem Monster-Mohel mit Fangzähnen rettet. Dieser wird von zwei ultraorthodoxen Juden mit Maschinengewehren begleitet, die ihm beim Einfangen der Kinder helfen. Manche vergleichen die Beschneidung auch mit der Genitalverstümmelung von Mädchen. Das ist ebenfalls falsch. Diese dient keinem medizinischen Zweck, sondern ist reine Verstümmelung.

NZ: Warum hat die Beschneidung im Judentum so einen Stellenwert?

Deusel: Für das Judentum ist die Beschneidung einer der ganz wichtigen Identifikationspunkte. Man könnte ja sagen: Dann warten wir damit, bis der Junge erwachsen ist. Aber es ist eine Art Generationenvertrag: Der Vater oder die Mutter sorgt dafür, dass man den Eingriff beim Kind vornimmt. Das merkt dann auch weniger davon. Die OP muss unter Betäubung stattfinden. Zudem ist die Nachbehandlung für Kinder leichter: Sie geht schneller und ist weniger unangenehm als bei Erwachsenen.

Nürnberger Zeitung, 11.7.2012

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