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"Gieße Deinen Zorn aus ..."

Anrufung göttlichen Zorns als Aufforderung zur Wissensvermittlung

von Rabbinerin Birgit E. Klein

„Gieße Deinen Zorn über die Völker aus, die Dich nicht gekannt haben, über Geschlechter (mischpachot), die Deinen Namen nicht angerufen haben. Denn sie haben Jakob verschlungen, haben ihn verschlungen und verzehrt und haben seine Siedlungen verwüstet.“

Die Belagerung Jerusalems 598/7 v. d. Z. vor Augen, forderte der Prophet Jirmejahu /Jeremia (10,25) Gott so auf, diejenigen Völker zu strafen, die bereits 722 das Nordreich Israel vernichtet und seine zehn Stämme deportiert hatten. Es blieb in der jüdischen Geschichte nicht bei dieser ersten Katastrophe, und so wurde nach der Zerstörung des Zweiten Tempels und Jerusalems im Jahr 70 n. d. Z. Gott in der antiken „Mechilta de-Rabbi Jischmael“ erneut aufgefordert, Seinen Zorn wie einst am Schilfmeer (Ex 15,7), so auch künftig auszusenden (ed. Horovitz-Rabin, Traktat Schira, Parascha 6, S. 136).

Angesichts der ungeheuer grausamen Verfolgungen und Ermordungen während der Kreuzzüge ist es nicht überraschend, dass spätestens seit dem 12. Jahrhundert auch in der Haggada Gott am Sederabend aufgefordert wird, Seinen Zorn über „die Völker […] und die Königreiche (mamlachot)“ auszugießen, „die Dich nicht kannten und die Deinen Namen nicht anriefen.“ Dies geschieht in dem Moment, in dem der Becher des Elias gefüllt und für ihn die Tür geöffnet wird, verkündet er doch den Messias, der endgültig von jeder Unterdrückung und Verfolgung befreien wird.

Die Haggada „A Different Night, The Family Participation Haggadah“ von Noam Zion und David Dishon (Jerusalem 2015, S. 142) behält die Anrufung des göttlichen Zorns bei, lässt aber zugleich eine weitere Aufforderung an Gott ergehen: Gott möge auch seine Liebe ausgießen über die Völker, die Gott anerkennen, und über die Staaten, die Gottes Namen anrufen, da sie Jakob Wohltaten erwiesen und das Volk Israel beschützt haben vor denen, die es verzehren wollten.

Das seit der Schoa beispiellose Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 in Israel und die seither drastische Zunahme antisemitischer Gewaltakte hierzulande und weltweit machen es möglicherweise nicht leicht, Gott beim diesjährigen Seder aufzufordern, Seine Liebe auszugießen – zu häufig wurden in den letzten Monaten Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls schmerzlich vermisst.

Vielleicht ist es daher aktuell praktikabler, eher auf die Vermittlung von Wissen an die „Völker, die Dich nicht kannten“, zu setzen. Bereits im Mittelalter scheint man hieran gedacht zu haben. Denn in der um 1430 entstandenen Pessach-Haggada des Israel ben Meir aus Heidelberg werden die Worte „Gieße Deinen Zorn über die Völker aus …“ gerahmt von studierenden und diskutierenden Frauen und Männern – vielleicht nicht nur der mittelalterliche Prototyp der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, sondern auch der Aufruf, getreu dem messianischen „Prinzip Hoffnung“, weiterhin auf Wissensvermittlung über jüdische Geschichte, Kultur und Religionspraxis als Gegenmittel gegen den Antisemitismus hierzulande zu setzen.

Aus dem "ARK Mitteilungsblatt" - Pessach 5784 / 2024

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