hauptmotiv

Die Früchte der Menschheit

Nicht nur zu Sukkot ernten wir, was wir säen

von Rabbinerin Jasmin Andriani

Dieser Tage ist es unsere Pflicht in der Laubhütte, der Sukka, zu sitzen. Die Torah sagt: Sieben Tage soll man in Hütten wohnen. Da es für die Menschen schon immer unbequem war, in einer so instabilen Behausung zu wohnen, in die es hineinregnen kann und durch die der Wind bläst, gibt es schon im Talmud Debatten darüber, was die Mindestanforderungen sind, um diese Mitzwah zu erfüllen: Es wird die wichtige und sehr realistische Frage behandelt, ob jemand seine Pflicht zum Sitzen in der Sukkah erfüllt, wenn zwar sein Kopf und der größte Teil seines Körpers in der Sukkah sind, sein Tisch aber in dem Haus steht, an das die Sukkah angebaut wurde. Bet Shammai sagt: das ist ungültig! und Bet Hillel sagt: es ist gültig. Auf ähnlich amüsante Weise wird weiter diskutiert, ob man seine Pflicht erfüllt hat, wenn man in die Sukkah ein Bett stellt, und dann aber nicht in dem Bett schläft, sondern darunter. Aber warum wird die Mitzwah so ernst genommen? Was ist eigentlich der Sinn dahinter?

„In Hütten sollt ihr wohnen sieben Tage, alle Einheimischen in Israel sollen wohnen in Hütten, damit eure Nachfahren wissen, dass in Hütten ich habe wohnen lassen die Söhne Israels, als ich sie herausgeführt habe aus dem Lande Mizraijim: Ich bin der Ewige euer Gott.“ (Wajikrah 23, 39 ff.)

Wir sollen mit all unseren Sinnen daran erinnert werden, dass wir nicht schon immer so gelebt haben wie wir es heute tun. In Häusern mit Steinwänden, Heizung und in Sicherheit. Unsere Vorfahren wanderten in der Wüste und wohnten in unbeständigen Behausungen. Aber auch viele von uns sind schon gewandert. Ausgewandert. Viele von uns wissen, wie es ist, kein zu Hause mehr zu haben und zu hoffen, dass das Schicksal es gut mit einem meint. Sukkot dient aber auch dazu, um uns neben der Wertschätzung für unser sicheres Zuhause noch an einen anderen Aspekt zu erinnern: Unsere Abhängigkeit von der Natur.
Wir dekorieren die Sukkah mit Früchten. Nicht nur, weil dies hübsch ist, sondern weil Sukkot zu Zeiten des Tempels eines von drei Pilgerfesten war. Man zog nach Jerusalem und brachte das schöns te Obst mit, das man frisch geerntet hatte. Die Pilger brachten die Früchte zum Tempel als Ausdruck der Dankbarkeit. Man stellte sich vor, dass die Natur Nahrung für uns Menschen nur mit G´ttes Hilfe produziert. G´ttes Brachah und des Menschen Arbeit schaffen zusammen die Lebensgrundlage. Man bedankte sich bei G´tt für seinen Teil in diesem Teamwork.

Diese Dankbarkeit kommt uns in modernen Zeiten allzu oft abhanden. Wir denken, dass wir alles allein vollbringen. Die Natur ist ein lebloses Ding, dass wir maximal ausnutzen können. Wir bohren und bauen, asphaltieren und fällen. Wir haben ein System erschaffen, in dem uns jeder Bezug zu den Früchten, ihrer Herkunft, ihrem Wachstum oder der Erntezeit verloren gegangen ist. Wir kaufen im Supermarkt. Unser Zeitalter wird Anthropozän genannt, das Zeitalter des Menschen. Dies ist kein schmeichelnder Begriff, sondern eher die Ankündigung einer Katastrophe.

Noch niemals in der Geschichte unseres Planeten hatte eine Spezies auch nur ansatzweise die Fähigkeit, die Umwelt so nach ihren Bedürfnissen zu formen. Das erste Mal übersteigt nun die vom Menschen gemachte Masse aller existierender Strukturen die weltweite Biomasse. Mit Biomasse ist alles Trockene gemeint – alle Pflanzen, Pilze, Bakterien, Tiere und auch alle Menschen. Seit vor 12.000 Jahren die Jäger- und Sammlerkulturen allmählich sesshaften Gesellschaftsformen wichen, hat der Mensch die weltweite pflanzliche Biomasse durch Landwirtschaft und Entwaldung von ursprünglich etwa zwei Teratonnen (2.000 Milliarden Tonnen) auf den aktuellen Wert von rund einer Teratonne halbiert. Dem steht mittlerweile eine gewaltige Anhäufung von anthropogener Masse gegen über. Das Gesamtgewicht all dieser Gebäude, Straßen, Maschinen, Verpackungsmaterialien etc. unterliegt, wie die Weltbevölkerung, in den vergangenen hundert Jahren einem exponentiellen Wachstum: Alle 20 Jahre hat sich das Gesamtgewicht dieser Strukturen verdoppelt. Für jeden Erdenmenschen wird aktuell pro Woche mehr als sein Körpergewicht an künstlichen Objekten produziert.

Lieber G´tt, hast du uns vielleicht zu viel Macht gegeben? Aber G´tt hat uns auch Verstand und den freien Willen gegeben. Wir können die Situation verstehen und haben die Möglichkeit, unsere Zukunft nach unseren Vorstellungen zu formen. Aus dieser Kombination heraus erwächst unsere Verantwortung, die wir gegenüber der Natur und ihren Schätzen haben.

Man nennt dieses Konzept in der rabbinischen Literatur „Shutafut beBoro“: wir Menschen sind G´ttes Partner in seiner Schöpfung. Ganz bald, zu Simchat Torah, beginnen wir die Torah wieder von vorne zu lesen. Die Erschaffung der Welt und des Menschen wird zunächst beschrieben. Gleich im ersten Kapitel der Torah steht: „Und Furcht und Schrecken vor euch soll sein auf allen Tieren der Erde und auf allem Gevögel des Himmels, an allem, womit die Erde sich reget, und an allen Fischen des Meeres: In eure Hand seien sie gegeben.“

Wir sollten dringend anfangen, uns dieser Verantwortung als würdig zu erweisen! Allerdings ist Sukkot nicht der Tag für Bitterkeit und Buße. Den haben wir erstmal hinter uns. Die Torah befiehlt uns, heute freudig zu sein. „We samachta beChagecha“. Wir können uns freuen, über die wundervollen Dinge, die die Natur für uns hervorbringt. Das ist ein wichtiger erster Schritt zur Wertschätzung. Ich fordere euch also auf: Macht einen schönen Herbstspaziergang! Genießt die letzte Sonne. Esst etwas Leckeres. Am besten in der Sukkah. Entspannt euch! Hinter uns liegt eine schwere Zeit. Die nächsten acht Tage ist uns Freude befohlen. Lasst uns diese erste Mitzwah des Jahres erfüllen.

Moadim lesimcha – chag sameach!
Rabbinerin Jasmin Andriani


Aus Mitteilungsblatt der ARK, 11. Ausgabe Rosch Haschana 2022/5783

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