hauptmotiv

»Herausziehen«- Pessach als Schabbat

von Rabbinerin Elisa Klapheck

Die Formulierung ist faszinierend: miMachorat haSchabbat – „am darauffolgenden Morgen nach dem
Schabbat“ (Lev 23,11). Die Rede ist hier nicht vom siebten Tag der Woche, sondern von Pessach. Pessach gilt in der Tora als „Schabbat“ – so wie auch Jom Kippur als Schabbat (Lev 23,32), ja sogar als Schabbat Schabbaton, als „hoher Schabbat“, bezeichnet wird (Lev 16,31). Tatsächlich geht in diesem Jahr der eine Schabbat in den zweiten Schabbat über: Samstag, der 27. März, ist Schabbat; Sonntag, der 28. März, ist der 1. Tag Pessach.

Ist Pessach dasselbe wie Schabbat? Enthält nicht Pessach im Vergleich zum Schabbat die genau umgekehrte Energie? Am Schabbat soll man innehalten, ruhen, keine Dinge in Bewegung setzen. Dem gegenüber herrscht in der Pessach-Nacht geradezu Hektik: man soll aufbrechen, herausziehen, sich einem unbekannten Risiko aussetzen und ins Ungewisse gehen.
Wie kann es sein, dass beides „Schabbat“ ist, Ruhen und Aufbrechen zugleich? In unserer Liturgie sind beide Schabbat-Motive unauflösbar miteinander verwoben. Die Worte beim Kiddusch am Schabbat drücken es aus: Einmal feiern wir Schabbat, weil Gott am siebenten Tag der Schöpfung geruht hat, und ebenso feiern wir Schabbat, weil Gott uns mit starker, also aktiver Hand, an Pessach aus Ägypten herausgezogen hat.
Nach der rabbinischen Vorstellung ist beides dasselbe. Gott hat die Zehn Gebote in der Tora in zwei verschiedenen Versionen gegeben (Ex 20; Dt 5). Vor allem im Schabbat-Gebot weichen sie stark voneinander ab: einmal sollen wir des siebten Tages der Schöpfung gedenken, das andere
Mal des Auszugs aus Ägypten. Beides sei dasselbe – „ein Ausspruch“.
Die innere Verbindung liegt im „Herausziehen“. Es geht nicht nur um das physische Herausziehen aus dem Sklavenhaus. In der Haggada werden wir mehrfach auch aufgefordert, herauszuziehen und zu lernen: ze ul’mad/ „ziehe hinaus und lerne!“ Das tun wir sowohl an Pessach, wenn wir die Haggada lesen, als
auch am Schabbat, wenn wir uns aus der Werkwoche herausgezogen und endlich die Ruhe haben, Tora
zu lernen. Den Töchtern Jerusalems wird im Hohelied gesagt zena u‘rena – „zieht heraus und seht!“ (Hohelied 3,11), was im 17. Jahrhundert zum Titel der „Weiberbibel“, der jiddischen Tora-Übersetzung mit Raschi-Kommentar wurde. Sich herauszuziehen – ob durch Innehalten am Samstag,
ob durch Aufbruch an Pessach, ob durch Selbstbefragung an Jom Kippur. Es ist stets dieselbe Ausrichtung. Da, wo wir gerade (gefangen) sind, sind wir nicht gezwungen zu bleiben

Wenn das Herausziehen an Pessach die Quintessenz von Schabbat ist, stellt sich allerdings die Frage, was
ein Schabbat inmitten der Woche zu bedeuten hat. Ist potentiell jeder Wochentag Schabbat? Denn Erew
Pessach fällt nur selten auf einen Samstag, viel öfter auf einen Wochentag. Die Rabbinen im Talmud haben vehement bestätigt, dass Pessach als Schabbat nicht unbedingt den siebten Tag der Woche bedeutet. Ihre Widersacher haben ihre Spur im Christentum hinterlassen, wo Ostern immer auf einen Sonntag fallen muss – und erst dann die 49 Tage bis Pfingsten gezählt werden. Bei uns Juden beginnt das OmerZählen miMachorat haSchabbat, an dem darauffolgenden Morgen nach dem Schabbat, der nicht unbedingt der siebte Tag der Woche, sondern ein Wochentag gewesen sein kann.
Die Antwort ist klar. Wir leben in zwei Zeiten zugleich, der „normalen“ Arbeitszeit und der „heiligen“ Zeit,
die den tieferen Sinn unseres Lebens enthält. Jeder Tag birgt die profane und die heilige Zeit zugleich, hat also das Potential, Schabbat zu sein. Aber erst indem wir uns aus den Alltagsaktivitäten und der Routine der profanen Zeit „herausziehen“, erfahren wir die Qualität der heiligen Zeit, des Schabbat, in Reinform. An Pessach wird das Schabbat-Gefühl noch intensiviert. Wir ziehen heraus! Ziehen uns heraus – und brechen wieder in die Richtung auf, in die unser tieferer Lebenssinn weist. Und wir tun es
mit allen Juden zusammen, niemand bleibt zurück.
Chag sameach!

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